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Full text of "Die Gewaltlosen; Drama in vier Akten"

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Rubiner,  Ludwig 
Die  Gewaltlosen 


263 


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LudwifT   Ruin'  n.'  ;• 


C'ji'ClUfciii'i'f!'!'"!''  JÜ'AO<Im'.  '»:?-'tyii  '.jj;;!^ 


DER  D'RAMATISGHE  WILLE 
ERSTER  BAND 


DIE  GEWALTLOSEN 

DRAMA  IN  VIER  AKTEN 


VON 


LUDWIG  RüßlNER 


I. — 10.  Tausend 


Gustav  Kiepenheu  er  Verlag  Potsdam 

I        9        I        9 


Dem  Kameraden,  meiner  Frau  Frida 


?r 


Zh\H 


PERSONEN 


DER  MANN 

DIE  FRAU 

KLOTZ 

DER  GOUVERNEUR 

ANNA 
NAUKE 

DER  ERSTE  GEFÄNGNIS  WÄCHTER 

DER  ZWEITE  GEFÄNGNISWÄCHTER 

DER  OFFIZIER 

DER  ERSTE  GEFANGENE 

DER  ZWEITE  GEFANGENE 

DER  KRANKE  AUF  DEM  SCHIFF 

DER  KAPITÄN 

DER  FÜHRER  DER  BÜRGER 

DREI  BÜRGER 

DER  BUCKLIGE 

DER  KRÜPPEL 

DER  JUNGE  MENSCH 

DREI  REVOLUTIONÄRINNEN  DER  STADT 

DER  JUNGE  VON  DER  STRASSE 

DER  HERR  IM  ZYLINDER 

DIE  FRAU  AUS  DEM  VOLK 

EIN  SOLDAT 

VOLK.  SOLDATEN.  MATROSEN 

DIE  SCHIFFSGEFANGENEN 


Die  Niederschrift  dieser  Legende  wurde 
im  Januar  i  9  i  7  begonnen,  iinHerbst  i  9  1 8 
beendet.  Inmitten  der  härtesten  Verzweif- 
lungsjahre, während  die  Siege  des  JVelt- 
kapitalismus  sich  über  den  Völkern  hin 
und  her  wälzten.  —  Zürich.  —  Die  Per- 
sonen des  Dramas  sind  die  Vertreter  von 
Ideen.  Ein  Ideenwerk  hilft  der  Zeit,  zu 
ihrem  Ziel  zu  gelangen,  indem  es  über  die 
Zeit  hinweg  das  letzte  Ziel  selbst  als  Wirk- 
lichkeit aufstellt 


Den  Bühnen  gegenüber  Manuskript.  Alle  Rechte  vorbe- 
halten, besonders  das  der  Übersetzung.  Das  Aufführungs- 
recht ist  vom  Verlag  Gustav  Kiepenheuer  zu  erwerben. 
Copyright  by  Gustav  Kiepenheuer  Verlag  Potsdam 


ERSTER  ART 

ERSTE  SZENE 

Strassenecke 

DerMann/EinJungeausderMenge/Eine 

Frau  aus  der  Menge/Ein  alter  Mann  /  Ein 

Herr  mit  Zylinder  /  Volksmenge 

DER  MANN  fan  einer  Ecke,  schreit J:  Hier  ist  es. 
Hier!  Alles  findet  ihr  hier  MEN  GE  fsammett  sich). 
EllüE  FR  k\J  f aus  der  MengeJ:  Haben  Sie  hier  Milch? 
EINALTERMANN  f läuft  atemlos  herzu) :  Sie  sagen 
drüben,  hier  gibt  es  Fleisch !  E I N  H  E  R  R  (mit  Zy- 
linder auf  dem  Kopfe):  Ist  es  wahr,  dass  man  Koh- 
len kriegt  ?  DERMANN:  Umsonst !  Ganz  umsonst ! 
Alles  wird  verschenkt!  Das  Leben  verschenkt! 
MENGE:  Wo?  DERMANN:  Du  kannst  haben, 
soviel  du  willst.  Jeder,  der  will,  bekommt  seinen 
Teil!  MENGE:  Ich  war  zuerst  da.  Ich!  DER 
MANN:  Niemand  braucht  länger  zu  warten.  Auf- 
gepasst.  Jeder  bekommt  gleich  alles.  Das  Leben  1 
EIN  JUNGE  (aus  der  Menge):  Der  redet  so  auslän- 
disch. Das  ist  gewiss  ein  Spion.  EIN  ALTER 
MANN:  Wo  ist  die  Polizei?  Ich  stehe  schon  eine 
ganze  Nacht.  Man  weiss  heute  nicht,  mit  wem  man 
zu  tun  hat.  DER  MANN  (zum  Jungen):  Du  kriegst 
Zigaretten.  (Zum  alten  Mann):  Ihr  kriegt  alle  Brot! 
DIE  FRAU  AUS  DER  MENGE:  Ich  kann  nicht  län- 
ger. Ich  falle  um.      DER  MANN:  Ihr  braucht  nicht 


mehr  zu  leiden!  (Zu  der  Frau):  Halten  Sie  noch 
einen  Augenblick  aus,  es  wird  alles  gut.  DER 
ALTE  MANN:  Vor  dem  Sterben  noch  was  essen! 
DER  MANN:  Sie  brauchen  nicht  zu  sterben.  Seht 
mich  an,  ich  sterbe  auch  nicht.  Niemand  braucht 
zu  sterben.  Ihr  könnt  alles  Leben  haben,  das  ihr 
wollt!  Ihr  wollt,  ihr  wollt,  ihr  wollt!  MENGE: 
Ja!  DER  MANN:  Ihr  wollt  frei  sein.  Ihr  werdet 
nicht  sterben.  DER  JUNGE:  Die  Polizei  kommt! 
AUS  DER  MENGE:  Maschinengewehre.  Militär! 
Die  Truppen.  DER  MANN:  Die  Soldaten  sind 
eure  Brüder,  sie  dürfen  nicht  schiessen.  MENGE 
{Tumult):  Sie  schiessen!  (Dunkel.)  DER  MANN 
(schon  aus  dem  Dunkel):  Soldaten,  Brüder!  Ihr 
dürft  nicht  schiessen ! 


ZWEITE  SZENE 

Zim^mer 
Der  Mann  /  Die  Frau 

DER  MANN:  Jetzt  haben  sie  den  Eingang  zum  Ne- 
benhaus. DIE  FRAU:  Es  geht  gegen  Morgen, 
ist  das  nicht  Brandgeruch?  DER  MANN:  Sie  le- 
gen Feuer,  damit  wir  herauskommen.  DIE  FRAU: 
Ich  rede  mit  dem  Offizier.  DER  MANN:  Nein. 
Sie  sollen  mich  nicht  lebendig  haben.  DIE  FRAU: 
Was  hilfts  dir,  wenn  du  tot  bist?  —  So  ist  noch 
eine  Möglichkeit.  DER  MANN:  Sie  sind  schon 
auf  dem  Dach.  Wir  haben  keine  Waffen.  DIE 
FRAU:  Ich  winke  mit  dem  Tuch  aus  dem  Fenster, 
dann  holen  sie  uns.  Ich  will  nicht  ersticken,  wie 

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die  drüben.  DER  MANN:  Wir  können  nicht  mehr 
heraus.  DIE  FRAü:  Wenn  ich  sie  hereinlasse, 
kommen  wir  vielleicht  noch  davon.  DER  MANN: 
Nein.  Sie  schiessen  auf  uns.  Lieber  wehren,  bis  zum 
letzten  Moment,  D I E  F  R  A  U :  Womit  willst  du  dich 
wehren  ?  DERMANN:  W^ir  haben  keine  Waffen.  Ich 
kann  mit  dem  Stuhl  den  ersten,der  zur  Tür  kommt, 
niederschlagen.  DIE  FRAU:  Das  ist  nur  einer; 
sie  schiessen  die  Wände  ein  und  kommen  durchs 
Fenster.  Dem  ersten,  der  kommt,  springe  ich  an 
den  Hals  und  beisse  ihm  die  Gurgel  durch.  Dann 
weiss  man,  wofür  man  stirbt.  DER  MANN:  Nein 
— -  das  rettet  uns  nicht.  Sie  morden  —  wir  nicht ! 
DIE  FRAU:  Aber  wie  davonkommen  —  ohne  Ge- 
Avalt?  DER  MANN:  Mord  und  Gewalt  ist  nicht 
dasselbe!  DIE  FRAU:  Verwirr  mich  nicht.  Ich 
sehe  nur  dies:  Unser  heutiges  Leben  —  Gewalt. 
Unser  Ziel  —  Gewaltlosigkeit! 
DER  MANN:  Luise,  ich  höre  sie  kommen.  Es  ist 
unser  letzter  Augenblick-  DIE  FRAU:  Es  ist  heiss 
im  Zimmer.  Der  Brand  von  nebenan  schlägt  her- 
über. DERMANN:  Ich  werde  mich  ergeben, 
dann  wird  dir  nichts  geschehen.  DIE  FRAU: 
Nein,  so  nicht.  Ich  habe  mit  dir  gekämpft.  Ich 
lasse  dich  nicht  im  Stich.  DER  MANN:  Es  wird 
hell  draussen.  Ich  nehme  alles  auf  mich.  Bleib 
hier.  Ich  gehe  ihnen  entgegen.  DIE  FRAU:  Bleibe. 
Ich  lasse  dich  nicht.  Wir  sterben  zusammen! 
DER  MANN:  Nein,  nicht  sterben.  Ich  will  nicht 
sterben.  Wir  haben  noch  nichts  getan.  Es  ist  noch 
nichts  getan.  DIE  FRAU:  Zu  spät.  DER  MANN: 
Zu  spät  oder  nicht.  Wie  still  es  ist.  Man  hört  nur 

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die  Schüsse,  wie  in  einer  Fabrik.  Die  Strasse  ist 
ganz  still. 

DIR  FRAU:  Du  bist  jetzt  so  ruhig.  Fast  könnte 
ich  Mut  haben.  DER  MANN:  Wir  haben  nichts 
zu  verheren.  Glaube  nur  diesmal  noch.  DIE 
FRAU:  Wir  sollten  uns  nicht  rühren,  wenn  sie 
kommen.  DER  MANN:  Dann  machen  sie  uns 
nieder.  DIE  FRAU:  Sie  sollen  uns  niedermachen. 
Sie  sollen  uns  binden,  sie  sollen  uns  erschlagen. 
DER  MANN:  Sie  werden  uns  foltern,  wie  sie  die 
Kameraden  gefoltert  haben.  Sie  werden  uns  Ge- 
ständnisse erpressen,  und  dann  erschiessen  sie  uns. 
DIE  FRAU:  Sie  erpressen  uns  nichts.  Wir  wehren 
uns  nicht,  und  wir  schweigen.  DER  MANN:  Ich 
rühre  mich  nicht.  Unser  Wille  ist  mehr  als  ihre 
Gewalt!  —  Es  geht  zu  Ende.  Luise,  küsse  mich. 
DIE  FRAU:  Nein,  nicht  küssen.  —  Denke  ganz  an 
mich.  DER  MANN:  Jetzt  ist  alles  gleich.  Du  bist 
mein  Freund,  meine  Schwester,  mein  Wesen, 
meine  Frau.  Es  ist  gleich,  ob  sie  uns  martern.  Das 
ist  gekommen,  wann  ich  es  nicht  miehr  erwartet 
habe.  DIE  FRAU:  Ich  umschlinge  dich  ganz  fest. 
Ich  denke  nur  von  dir.  —  Sei  ganz  bei  mir.  Nun 
können  sie  morden.  DER  MANN:  Ich  will  nur 
noch  bei  dir  sein.  Ich  höre  nur  dich.  Ich  bin  so 
stark  bei  dir.  DIE  FRAU:  Alle  Menschen  stossen 
mich  zu  dir.  Ich  höre  nur  deine  Stimme  noch. 
Wir  sind  ganz  allein.  DER  MANN:  Wir  sind 
ganz  allein.  Alle  sind  tot.  Ich  weiss  nur  noch  von 
dir.  Ich  habe  nur  noch  dich.  Vielleicht  entkommen 
wir  über  die  Leiter  an  der  Wand.  DIE  FRAU. 
Sie  sehen  uns.     DER  MANN:  Sie  werden  uns  nicht 

IG 


sehen.  Ich  will.  DIP:  FRAU:  Ich  will,  dass  sie 
uns  nicht  sehen.  Ich  will  so  stark,  dass  ich  lautlos 
und  wie  eine  Tote  unsichtbar  bin.  DER  MANN. 
Ich  will,  dass  wir  leben.  Wir  dürfen  noch  nicht 
hin  sein.  DIE  FRAU:  Ich  will,  dass  du  lebst. 
Wir  haben  noch  alles  zu  tun.  DER  MANN: 
Komm,  leise.  Hinab.  Ich  will,  dass  wir  ein  Schat- 
ten der  Mauer  sind.  Verschwinden.  DIE  FRAU: 
Verschwinden  unter  den  Steinen,  unter  den  Men- 
schen für  das  Leben.  Ich  glaube  an  dich.  DER 
MANN:  Fliege  mit  mir,  komm.  Ich  will.  Halte 
dich  an  mir.  Wir  schweben.  DIE  FRAU:  Hin- 
unter. Hilf  mir.  Ich  will.  DER  MANN:  Glaube, 
dass  du  träumst.  Fliege  im  Schlaf;  du  rührst  nur 
leise  die  Füsse.  Niemand  sieht  dich.  DIE  FRAU: 
Ich  schwebe  mit  dir.  (Im  Dunkel  nur  die  beleuchte- 
ten Köpfe  von  Mann  und  Fi- au.) 
DERMÄNN:  Jetzt.  Wirfliegen.  DIEFRAU:  Es  wird 
so  dunkel.  Hinab.  Wer  zieht  mich  hinauf?  DER 
MANN:  Rund  um  mich  ist  dunkel.  DIE  FRAU: 
Meine  Füsse  sind  nicht  auf  Festem.  Der  Boden 
sinkt.  DER  MANN:  Unten  ist  hell.  DIEFRAU: 
Wir  sind  in  einem  Gang.  DER  MANN:  Schreite, 
schreite.  Es  brennt  wie  Feuer.  Komm  hindurch! 
DIE  FRAU:  Mit  dir.  Wo  sind  wir?  Ich  strecke  den 
Arm,  ich  fühle  keine  Wände.  Ein  runder  Gang  ist 
um  uns.  DER  MANN:  Hinab.  Es  reisst  uns  hinab. 
Rasende  Schnelligkeit.  Woran  halt  ich  mich  fest? 
DIE  FRAU:  Halte  mich  fest.  Ich  sinke.  DER 
MANN:  Wer  ist  da?  Ich  ersticke.  Ist  ein  Mensch 
da?  Wer  steht  da  im  Dunkel?  DIE  FRAU:  Hin- 
durch! O  eile.     DER  MANN:  Die  letzte  Kraft.  Wir 

1 1 


sind  in  einer  finsteren  Höhle.  Ich  sterbe  für  dich. 
DIE  FRAU:  Lebe  und  töte  mich.  Ich  bin  nicht 
mehr.  DER  MANN:  Luft.  Atme!  Ich  sehe  Sterne. 
Es  ist  fest  unter  meinen  Füssen.  Luise,  frei! 
DIE  FRAU:  Dass  ich  noch  lebe!  Fort,  fort.  Es  ist 
mein  Leib.  DER  MANN:  Wir  leben.  Kein  Mensch 
>vird  mehr  sterben.  Wir  helfen  allen.  Wir  sind 
stark. 


DRITTE  SZENE 

Strasse  vor  dem  Zimmer 
Vorige  /  Später  Soldaten 

Der  Mann  und  die  Frau  machen  den  letzten  Schritt 

aus  dem  Dunkel  auf  die  helle  Strasse.  Vor  ihnen 

Trümmer  einer  Barrikade. 

DIE  FRAU:  Wir  sind  auf  der  Strasse.  Komm.  Nun 
hab   ich  Kraft  für  die  Ewigkeit. 

Vor  dem  Zimmer  ein  Schuss.      Die  Türe  wird  auf- 
gehrochen. Soldaten  dringen  ins  halbdunkle  Zimmer 
mit  Laternen. 


VIERTE  SZENE 

DER  MANN  UND  DIE  FRAU  (auf  der  Strasse) :  Ich 
lebe  1  (Sie  winden  sich  durch  die  Trümmer  der  Bar- 
rikade, sehen  sich  schwankend  in  der  St?-asse  um): 
Komm  schnell.  Leben!  DIE  FRAU:  Komm,  eh 
das  Wunder  zerbricht!  DER  MANN:  Leben!  Für 
die  Menschen !  Nun  hab  ich  Kraft  auf  ewig. 

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FÜNFTE  SZENE 

Der  Mann  und  die  Frau  [eilen  ah)  Noch  ehe  sie 

die  Bühne  verlassen,  treten  Soldaten  au^ 

SOLDATEN:  Halt,  wer  da?  DER  MANN  fzvr 
Frau):  Du  schnell  fort.  Zum  Scbiff.  Ich  werde  frei! 
(Zu  den  Soldaten):  Was  wollt  ihr?  (Die  Frau  eilt 
nach  der  anderen  Seite  ah.)  SOLDATEN:  Ent- 
wischt! Das  Weil)  ist  uns  im  Dunkel  entwischt! 
Dafür  haben  wir  den  Kerl.  (Sie  packen  den  Mann 
und  schleppen  ihn  fort.) 

SECHSTE  SZENE 
Der  Offizier/  Später  ein  Soldat 

DEROFFIZIER  (im  Zimmer):  Wer  hat  sie  ent- 
wischen lassen? 

SIEBENTE  SZENE 

EIN  SOLDAT  (stürzt  auj):  Wir  haben  ihn.  Er  wird 
gefesselt  abtransportiert. 

Dunkel 

ACHTE  SZENE 

In  der  Festung.     Raum  des  Gouverneurs 
Der  Gouverneur  /  Klotz 

DER  GOUVERNEUR:  Sie  geben  also  alles  zu. 
KLOTZ:  Ja.  DER  GOUVERNEUR:  Wollen  Sie 
jetzt  das  Protokoll  unterschreiben?     KLOTZ:  Ja. 

i3 


DER  GOUVERNEUR:  Sie  werden  nicht  gedrängt. 
Sie  können  es  sich  überlegen.  KLOTZ:  Ich  habe 
es  schon  überlegt.  DER  GOUVERNEUR:  Es  ist 
gut,  dass  Sie  sich  so  vernünftig  benehmen.  Wir 
brauchen  keine  scharfen  Mittel  gegen  Sie  anzu- 
wenden. KLOTZ:  Die  würden  nichts  nützen, 
Herr  Gouverneur.  DERGOÜVERNEÜR:  Seien 
Sie  nicht  hochmütig.  Ich  kenne  diesen  Ton  bei  den 
Untersuchungsgefangenen,  er  hört  bald  genug  auf, 
wenn  es  Ernst  wird.  Sie  sind  nicht  der  erste,  mit 
dem  ich  zu  tun  habe.  KLOTZ:  Ich  weiss.  Aber 
ich  bin  nicht  stolz. 

DER  GOUVERNEUR:  Sehen  Sie  doch  ein,  dass 
Ihre  Handlungsweise  unrecht  war.  Sie  war  aber 
auch  unsinnig.  Ein  Mann  von  Ihrer  Intelligenz 
hat  nicht  das  Recht,  unverständige  Kreaturen 
aufzureizen.  Das  werden  Sie  ja  büssen.  Aber  ich 
meine,  Sie  mit  ihren  Fähigkeiten  könnten  der 
Gesellschaft  wirkliche  Dienste  leisten.  Ich  sage 
nicht,  kommen  Sie  zu  uns.  Aber  ich  sage:  lassen 
Sie  Ihre  bisherige  Tätigkeit.  KLOTZ:  Nein, 
Herr  Gouverneur.  DERGOÜVERNEÜR:  Glau- 
ben Sie  doch  nicht,  bei  mir  mit  diesem  Trotz 
Achtung  zu  erregen.  Das  hat  gar  keinen  Sinn. 
KLOTZ:  Nein,  es  hätte  keinen  Sinn.  Es  ist  aber 
nicht  um  zu  imponieren,  und  es  ist  auch  kein  Trotz. 
DERGOÜVERNEÜR:  So,  was  ist  es  denn? 
KLOTZ:  Es  ist  mein  Glaube.  DER  GOUVERNEUR: 
Ihr  Glaube?  Aber  sehen  Sie  denn  nicht,  dass  er  Sie 
irregeführt  hat?  KLOTZ:  Nein.  DERGOÜVER- 
NEÜR: Ja,  so  sind  alle  Fanatiker.  Sie  haben  einen 
Glauben,  aber  der  andere  hat  keinen  oder  einen 

14 


falschen!  KLOTZ:  Ich  weiss.  Auch  Sie,  HerrGou- 
verneur,  sind  ein  Mensch.  DER  GOUVERNEUR: 
Lassen  wir  diesen  Ton.  —  Ernstlich.  Sehen  Sie 
mich  an.  So,  wie  ich  vor  Ihnen  stehe  —  warum 
meinen  Sie  denn,  stehe  ich  hier,  wenn  nicht  auch 
ich  meinen  Glauhen  hätte?  KLOTZ:  Nein,  das  ist 
nicht  der  Glaube.  Das  ist  die  Macht.  DER  GOU- 
VERNEUR: Die  Macht,  sagen  Sie.  Ja,  ich  habe  die 
Macht.  Und  der  beste  Beweis  gegen  Sie  ist,  dass 
Sie  sie  nicht  haben.  KLOTZ:  Nein.  DER  GOU- 
VERNEUR: Ah,  und  warum  haben  Sie  sie  nicht? 
Fehlte  nur  noch,  dass  Sie  mir  sagen,  weil  Sie  sie 
nicht  wollen.  KLOTZ:  Ja,  weil  ich  sie  nicht  will. 
DER  GOUVERNEUR:  Nun  schön.  Ich  lasse  Sie  jetzt 
abführen.  Ich  sehe,  ich  habe  mich  zu  weit  mit  Ihnen 
eingelassen.  Es  ist  immer  wieder  dasselbe :  Sie  und 
Ihre  Genossen  glauben  bei  der  geringsten  mensch- 
lichen Regimg  von  unsereinem  das  Recht  zum  Miss- 
brauch zu  haben.  Es  soll  nicht  mehr  vorkommen. 
KLOTZ:  Macht,  was  ist  das?  Ihre  Zentralheizung, 
Ihr  Telephon,  Ihre  elektrische  Klingel,  Ihre  Be- 
amten. DER  GOUVERNEUR:  Meine  Beamten. 
KLOTZ:  Ihre  Beamten  —  wie  lange?  Solange 
Sie  auf  Ihrem  Posten  sind.  Solange  Sie  leben.  So- 
lange Ihre  Beamten  leben.  Übrigens,  sind  Sie 
Ihrer  Beamten  sicher?  DER  GOUVERNEUR:  So- 
lange ich  lebe,  und  solange  die  anderen  leben. 
Solange überhauptMenschen  leben.  KLOTZ:  Ah, 
und  wieso  stände  ich  denn  hier  vor  Ihnen?  Wie 
kommt  es,  dass  Sie  und  Ihre  Organisation  vergeb- 
lich versuchen,  meinen  Mund  zu  schliessen?  Seit 
Jahrhunderten  versuchen  Sie  das  vergeblich. 

i5 


DERGOUVERNEUR:  Vielleicht  muss  auch  das  sein. 
Sie  sind  nur  das  dunkle  Feld  —  ich  sage  nicht  einmal : 
die  Gegenseite!  —  auf  dem  unser  Bau  reiner  und 
höher  dasteht.  Vielleicht  sind  Sie  sogar  nötig,  um 
unsere  Macht  leuchtender  und  bewusster  zu  ma- 
chen. Aber  das  hindert  nicht,  dass  wir  Sie  und  Ihre 
Kameraden  aus  der  Welt  schaffen.  Und  wissen  Sie, 
wer  uns  dabei  am  meisten  zu  Hilfe  kommt?  Sie 
selbst.  W^as  wollen  Sie?  Sie  wollen  selbst  die 
Macht.  In  allen  Ländern  ist  es  das  gleiche:  Ihre 
Freunde  schreien  so  lange,  bis  sie  sich  emporge- 
schrien haben.  Schliesslich  ist  alles  nur  eine  Per- 
sonenfrage. Zufall,  dass  nicht  Sie  hier  an  meiner 
Stelle  stehen,  sondern  ich.  KLOTZ:  Wäre  das  so, 
wie  Sie  sagen,  dann  hätten  Sie  nicht  das  Recht,  an 
dieser  Stelle  zu  stehen.  Sind  Sie  denn  dafür,  dass 
in  der  Welt  ein  Mensch,  besinnungslos  vielleicht, 
einen  anderen  Menschen  beschimpft,  oder  quält, 
oder  krank  macht,  oder  zuletzt  mordet?  Nein,  da- 
für sind  Sie  nicht.  Sie  sind  auf  Ihrem  Posten,  weil 
Sie  glauben,  dass  dadurch  mehr  Gerechtigkeit 
herrscht.  Sie  vertreten  die  Gewalt,  in  Wahrheit,  weil 
Sie  glauben,  dass  Sie  dadurch  der  Güte  dienen.  Aber 
Sie  haben  immer  in  einer  einzigen  fürchterlichen 
Angst  gezittert:  Man  könne  Ihnen  wegnehmen, was 
Sie  besassen.  Toll  vor  Angst  haben  Siesich  in  den 
Jahren  Ihren  Posten  erarbeitet,  mit  Fleiss,  mit  Klug- 
heit, mit  Protektion,  mit  Energie.  Sie  haben  heute  die 
Verfügung  über  Gefängnisse  und  Maschinenge- 
wehre. Und  Sie  stehen  inmitten  Ihrer  Macht  und  zit- 
tern vor  jeder  Sekundelhrer  Zukunft.  Aber  schon  für 
eine  schwache  Stimme,  wie  die  meine,  für  einen 

i6 


Mann,  den  Sie  und  Ihre  Auftraggeber  mit  einer 
kleinen  Vertilgung  beseitigen  können,  müssen  Sie 
Ihre  ganze  Geistesgegenwart  und  Ihre  Nervenkraft 
zusammennehmen.  Für  uns  Schwaclie  müssen  Sie 
dieses  grosse  Haus  hier  mit  dicken  Mauern  bauen, 
Schildwachen  davorstellen.  Unablässig  müssen  Sie 
«ine  Armee  von  Spitzeln  in  Tätigkeit  setzen,  Sie 
müssen  die  Marterschreie  anderer  Menschen  erdul- 
den. Ihr  Leben  vergeht  in  einem  angestrengten 
Unsinn.  Ihre  ganze  Macht  ist  dazu  da,  dass  Sie 
Ihrer  Angst  vor  sich  selbst  ewig  neu  preisgegeben 
sind. 

DER  GOUVERNEUR:  Ich  höre  Ihnen  geduldig 
zu  und  lasse  Sie  für  Ihre  Reden  nicht  bestrafen. 
Sie  sehen,  ich  gebrauche  meine  Macht  sehr  milde. 
KLOTZ:  Sagte  ich  denn,  dass  Sie,  Sie,  die  Macht 
haben?  Sie  selbst  sind  doch  ein  Werkzeug  der 
Macht,  eine  Sklave  der  andern  sind  Sie,  wie  die 
Wächter  draussen  Ihre  Sklaven  sind.  Wissen  Sie 
denn  noch,  wasder Mensch  ist, wasLeben  ist,  wasFrei- 
heit  ist?  Sie  lassen  die  Menschen  peinigen,  foltern, 
morden.  Und  Siehaben  nur  die  Angst,  daran  zu  den- 
ken, dass  die  Schmerzen,  das  geronnene  Blut  und  das 
erstickte  Leben  der  Gepeinigten  und  Hingeschlach- 
teten Sie  einmal  anklagen  wird  bei  der  Menschheit, 
anklagen  vor  dem  Ende  der  Welt,  bei  allem  an- 
klage n,  was  in  uns  noch  Menschlichkeit  war  — 
und  dass  der  Schrei  der  Gefolterten  Finsternis  in 
Ihre  Seele  bringt  und  Ihnen  das  Herz  aus  dem 
Leibe  reissen  wird.  DER  GOUVERNEUR:  Warum 
sagen  Sie  mir  das?  Erwarten  Sie  vielleicht  davon  Ihre 
Freiheit?      KLOTZ:  Nicht  von  Ihnen.  Wollen  Sie 

a    Rnbincr,  Die  Gewaltlosen  IJ 


es  wissen :  Ich  bin  frei.  Hier  im  Gefängnis.  Sie 
nicht.  Sie  haben  alles  zu  verlieren,  ich  nichts.  Ich 
bin  es,  der  zu  schenken  hat!  DER  GOUVERNEUR: 
Sie  schenken?  KLOTZ:  Das  Geschenk  des  Men- 
schen: die  Freiheit.  DER  GOUVERNEUR :  Ja, 
mit  Worten!  KLOTZ:  Wenn  Sie  wollen,  mit  der 
Tat!  —  Wollen  Sie!  DER  GOUVERNEUR.  Was? 
KLOTZ:  Das  Letzte.  DER  GOUVERNEUR:  Und? 
KLOTZ:  Kommen  Sie  mit  mir! 
DER  GOUVERNEUR:  Sehen  Sie  sich  um:  Das 
alles  bin  ich,  dieses  ganze  Haus  bin  ich.  Diese 
Lampe  hier  brennt  durch  mich.  Der  Schritt  des 
Wächters,  den  sie  draussen  hören,  geschieht 
durch  mich.  Wäre  ich  nicht  da,  so  griffe  alles  ins 
Leere.  Diese  Mauern  wanken.  Das  bröckelt  in 
einem  INu  zusammen,  und  an  seinem  Platz  ist  ein 
Schutthaufen,  auf  dem  Kinder  und  Hunde  spielen. 
KLOTZ:  Sie  sagen  es:  Kein  Gefängnis  mehr,  son- 
dern ein  Schutthaufen,  auf  dem  Kinder  und  Hunde 
spielen .  Durch  Sie.  Wunderbarer  Tag !  D  E  R  G  O  U  - 
VERNEUR:  Aber  ich  darf  nicht.  KLOTZ:  Dann 
lassen  Sie  mich  hier  und  gehen  Sie  allein. 
DER  GOUVERNEUR:  Hier  meine  Hände,  so  leer 
wie  sie,  ist  mein  Leben.  Ich  brauche  ja  nichts.  Ich 
bin  allein.  Ein  Einzelner.  Der  Andere  nach  mir  lässt 
alles  wie  es  war,  und  mein  Sprung  war  nur  für 
mich.  KLOTZ:  Ah,  ein  Mensch  nur,  der  den 
Sprung  tut,  ein  einziger  nur,  der  sich  ganz  besinnt, 
dass  er  Mensch  ist:  Und  Sie  haben  alle  Macht  der 
Welt  vernichtet.  Unüberwindlich  wären  Sie,  ein 
Keim,  der  durch  die  Luft  fliegt,  unsichtbar,  all- 
gegenwärtig durch  alle  Wände,  und  danach  zer- 

l8 


fiele  alle  Gewalt  der  Erde  wie  eine  schimmelige 
Bude  in  der  Feuchtigkeit.  Sie  sind  der  Mensch. 
Sie  sind:  Wir  alle.  Und  nur,  der  es  wagen  würde, 
ahnungslos  an  Ihre  Stelle  zu  treten  und  die  Räder 
der  Macht  weiter  kreischen  zu  lassen,  der  wäre 
ein  Einzelner.  Grauenhaft  allein  wäre  der  unter 
den  neuen  Menschen,  morsch,  zum  sicheren  Sturz 
ins  tödliche  Vergessen  verurteilt,  wie  ein  angefaulter 
Telegraphenmast  vom  Wind  gefällt  wird.  Die 
Macht  liegt  hinter  Ihnen.  Sie  sind  frei.  Sie  wi^en, 
dass  Sie  frei  sind.  Kommen  Sie!  DER  GOUVER- 
NEUR: Meine  Macht?  Dieses  Schlüsselbund  hier 
auf  dem  Tisch  ist  meine  Macht.  Da  ist  der  Schlüssel 
zu  meiner  Wohnung.  Hier  zu  meinem  Schreib- 
tisch. Der  da  zu  diesem  Zimmer.  Und  das  ist  der 
Schlüssel  zu  den  Verfügungen.  Hier  sind  sie.  Neh- 
men Sie  sie.  Ich  gebe  sie  Ihnen.  Mit  diesem  kleinen 
Stückchen  von  geschmiedetem  Eisen  befehlen  Sie 
der  Welt.  KLOTZ:  Nehmen  Sie  die  Schlüssel 
zurück.  Ich  will  sie  nicht.  Ich  brauche  sie  nicht. 
Ich  befehle  nicht. 

DER  GOUVERNEUR:  Sie  Stehen  vor  mir  so  weit, 
dass  ich  nicht  einmal  die  Arme  nach  Ihnen  strek- 
ken  kann.  Dieser  Boden  ist  ein  spitzes  Gebirge. 
Kann  ich  mich  noch  retten?  KLOTZ:  Sie  sind 
gerettet,  Sie  sind  hinter  dem  Tod.  Nun  gehen 
Sie.  DER  GOUVERNEUR:  Ich  bin  frei.  Ich 
weiss  es.  Aber  wohin  gehe  ich?  KLOTZ:  Zu  den 
Menschen.  DER  GOUVERNEUR:  Wer  ist  das? 
Ich  bin  ein  Mensch,  Sie  sind  ein  Mensch.  Ist  es 
nicht  Übermut  zu  gehen?  Ich  bin  geboren  und 
geschaffen  in  diese  Welt  hinein,  in  der  ich  gelebt 

2*  19 


habe.  Wenn  ich  mit  dir  gehe,  ist  das  nicht  Lüge? 
Ich  befehle  Armeen  und  gewinne  Schlachten. 
Die  Sonne  geht  morgen  auf,  ich  werde  Armeen 
von  Menschen  befehlen,  und  Menschen  werden 
von  mir  sich  befehlen  lassen!  Ändert  sich  etwas? 
Die  Macht  bleibt.  Ich  weiss  zuviel  von  Menschen. 
Ich  bin  allein.  Ich  bin  kein  Bruder. 
KLOTZ:  Nein.  Du  bist  nicht  mehr  allein.  Niemand 
ist  allein.  Jeder  von  uns  ist  eine  riesige,  glühende, 
rote  Sonne  im  Weltraum,  sie  scheint  mild  und  klein 
hindurch  in  ein  Krankenzimmer,  und  da  erst  weiss 
man  von  ihr.  Ah,  ich  fühle  es:  DieGewalt  ist  tot  in 
dir;  aber  du  zitterst  noch  vor  deiner  Erkenntnis?  O 
strecke  nur  zum  erstenmal  die  Hand  aus,  nicht 
um  zu  befehlen,  sondern  um  zu  helfen.  Wende 
nur  zum  erstenmal  den  Kopf,  nicht  um  zu  richten, 
sondern  um  zu  führen.  Du  bist  geboren  von  Milli- 
onen Geschlechtern  hervor  aus  dem  Licht,  um 
ein  wehender  Mensch  zu  sein,  ganz  unter  den 
Menschen.  Alles,  was  mit  dir  kam,  und  in  dir 
alles,  was  Erkenntnis  weiss,  schwingt  sich  durch 
das  Blut  deiner  Adern  in  deinen  Handgriff,  mit 
dem  du  hilfst.  Du  warst  einsam;  aber  dein  Wissen, 
das  dich  trennte,  springt  unter  den  Menschen  um 
in  Tat.  Wir  alle  werden  unter  den  Menschen- 
brüdern sein,  keiner  mehr  gross,  keiner  mehr 
klein.  DER  GOUVERNEUR:  Wohin?  Wohin? 
KLOTZ:  In  unser  Reich.  Wir  bauen  mit  Dir  die 
neue  Erde.  Bruder!  Wir  warten  auf  dich.  DER 
GOUVERNEUR:  Ihr  wartet  auf  mich?  KLOTZ: 
Ja.  In  Freiheit,  in  Liebe,  in  Gemeinschaft.  Die 
ganze  Menschheit  zu  befreien!  Wirf  deine  Knecht- 


Schaft  von  Dir,  sei  frei  —  frei!  Mensch,  der  du  in 
Wahrheit  hist!  Stosse  die  Angst  von  dir!  Hilf  der 
Menschheit.  Du  unser  Bruder !  DER  GOUVER- 
NEUR:   Mensch    sein.   —   Bruder.   —    Ich    gehe 

mit  dir! 

Dunkel 

NEUNTE  SZENE 
Gefängnis.  Eine  Bank,  auf  der  zwei  Wachtet-  der 

Gefangenen  sitzen 

Erster  Wächter  /  Zweiter  Wächter  /  Später 

der  Mann 

ERSTER  WÄCHTER:  In  den  Zellen  geht  etwas 
vor.  Da  ist  nicht  alles  in  Ordnung.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Es  ist  alles  ruhig.  Ich  habe  eben  noch 
einmal  inspiziert  und  durch  die  Türen  gesehen. 
Was  sollte  auch  geschehen?  Wir  haben  das  neue 
Alarmsystem.  Es  kann  gar  nichts  vorkommen. 
ERSTER  WÄCHTER:  Es  geht  etwas  vor  seit  die 
neuen  Gefangenen  da  sind.  Wenn  man  zwanzig 
Jahre  Dienst  in  der  Festung  tut,  fühlt  man  es  am 
Rücken,  ob  etwas  nicht  in  Ordnung  ist.  ZWEI- 
TER WÄCHTER:  An  deinem  Rücken  spürst  du 
das?  Die  Kerle  sollen  es  an  ihrem  Rücken  spüren, 
wenn  sie  sich  unterstehen !  ERSTERWÄCHTER: 
So  etwas  sagt  man  hier  nicht.  ZWEITER 
W-  Ä  C  H  T  E  R :  Wusste  nicht,  dass  ich  in  einem 
Jungfernstift  bin.  ERSTERWÄCHTER:  Grün- 
ling! Bei  uns  heisst  es:  Kein  Wort  mit  dem  Mund^ 
aber  alles  mit  dem  Gummiknüppel.  ZWEITER 
WÄCHTER:   Habt   ihr   noch   mehr   von   solchen 

21 


Bibelsprüchen  ?  ERSTERWÄCHTER:  Wir  schla- 
gen nie.  Der  Gefangene  hat  sich  immer  gestossen. 
ZWEITER  WÄCHTER:  Kenn  ich  vom  Irrenhaus 
her:  Der  Patient  kommt  in  Gummi,  der  kann  kein 
GHed  mehr  rühren,  auch  wenn  die  Ohrfeigen  von 
selbst  kommen;  nur  noch  schreien,  und  das  hört 
keiner.  Wenigstens  uns  hat  das  Schreien  noch  nie 
beim  Essen  gestört.  ERSTER  WÄCHTER:  Wir 
sind  hier  nicht  im  Irrenhaus,  junger  Mann.  Das 
hier  ist  eine  anständige  Festung.  Da  schreit  keiner, 
denen  ist  das  Schreien  schon  längst  vergangen. 
Wenn  da  so  eine  feine,  blanke  Haut  von  draussen 
kommt,  wo  wir  sehen,  der  hält  nicht  still ;  so  einer 
wird  gleich  in  eine  Ecke  gesteckt,  wo  ihm  monate- 
lang im  Dunkel  das  Wasser  von  den  Mauern  über 
die  Knochen  rieselt.  ZWEITER  WÄCHTER:  Und 
wenn  er  euch  krank  wird?  ERSTER  WÄCHTER: 
Soll  er  ja  auch,  du  Anfanger!  Ich  geh  gewiss  nicht 
im  Pflegerkittel  zu  ihm.  So  einen  haben  wir  bald 
mürbe. 

ZWEITER  WÄCHTER:  Du  sagst  aber  selbst, 
dass  in  den  Zellen  etwas  vorgeht!  ERSTER 
WÄCHTER:  Das  ist  was  andres.  Das  spür  ich. 
Vor  zwanzig  Jahren,  als  ich  den  Dienst  antrat, 
hab  ich  es  schon  mal  so  gespürt.  Damals  haben 
wir  ein  halbes  Dutzend  mit  unseren  eigenen  Hän- 
den still  machen  müssen.  Die  andern  wurden  an 
der  Mauer  von  den  Posten  abgeknallt.  Der  letzte 
bekam's  so,  dass  er  bald  am  Schädelbruch  starb. 
Seitdem  heisst  es,  man  soll  nicht  mehr  schlagen. 
ZWEITER  WÄCHTER:  Weiss  schon.  Heute  haben 
wir  gebildetere  Zeiten.    ERSTER  WÄCHTER:  Du 

22 


meinst,  weil  der  Sträfling  photographiert  wird? 
Ich  spür's  doch  im  Rücken,  dass  etwas  vorgeht,  ich 
spür's  viel  stärker  als  damals;  zwanzig  Jahre  lang 
war  hier  ein  so  stilles  Leben,  und  heute  ist  mir 
auf  einmal,  als  ob  die  Steine  aus  den  Wänden 
fliegen  und  die  eisernen  Türen  von  Pappe  sind. 
Ich  bin  gar  nicht  sicher. 

ZWEITER  WÄCHTER:  Mach  doch  eine  Meldung. 
ERSTER  WÄCHTER:  Ich  kann's  nicht  beweisen. 
Dann  heisst  es  nur,  ich  bin  zu  alt  zum  Dienst  gewor- 
den. ZWEITER  WÄCHTER:  Wie  lang  muss  ich 
Dienst  machen ,  um  deinGehalt  zu  kriegen  ?  ERSTER 
WÄCHTER:  Für  dich,  mein  Jüngelchen,  aus  dem 
Amt  fliegen?  Und  was  soll  meine  Frau  und  meine 
Tochter  machen?  ZWEITER  WÄCHTER:  Wie 
alt  ist  deine  Tochter?  ERSTER  WÄCHTER:  Und 
dann  ist  noch  das  Kind  da;  das  Dreinschlagen  nützt 
nichts,  die  Weiber  wollen  ihr  Leben  haben. 
ZWEITER  WÄCHTER:  Wenn  aber  deine  Tochter 
heiratet,  dann  bist  du  doch  versorgt,  ERSTER 
WÄCHTER:  Der  Kerl,  von  dem  das  Kind  ist,  der 
ist  längst  über  alle  Berge.  Heiraten  ?  Auf  dem  Halse 
habe  ich  sie,  und  ich  habe  doch  in  meinem  Alter 
so  sehr  meine  Ruhe  verdient.  ZWEITER  WÄCH- 
TER: Ich  muss  gleich  wieder  Runde  machen. 
Wenn  du  meinst,  dass  in  den  Zellen  nicht  alles  in 
Ordnung  ist,  will  ich  den  Revolver  mitnehmen.  — 
Kannst  du  nicht  einen  jungen  Mann  für  deine 
Tochter  brauchen?  ERSTER  WÄCHTER:  Das 
heute  ist  kein  Revolvertag,  ich  weiss  das.  Du 
willst  meine  Tochter  heiraten  ? 


23 


ZEHNTE  SZENE 

Während   die    Wächter    weiter    sprechen,    erscheint 
hinter  der  Giltertiir  der  Zelle  der  Mann. 

Der  Mann  hinter  den  Gittern  in  Ketten 

ZWEITER  WÄCHTER:  Wieviel  Gehalt  kriegst 
du?  ERSTER  WÄCHTER:  Wenn  du  Anna  hei 
ratest,  das  ist  was  anderes;  da  kommst  du  einmal 
an  meine  Stelle.  ZWEITER  WÄCHTER:  Und 
das  Rind  von  deiner  Tochter?  ERSTER  WÄCH- 
TER: Ich  lege  ein  Wort  für  dich  heim  Gouverneur 
ein.  ZWEITER  WÄCHTER:  So  alt  das  Kind  ist, 
soviel  Dienstjfihre  krieg  ich  von  deinen.  ERSTER 
WÄCHTER:  Ich  muss  jetzt  in  den  Keller,  wo  der 
Sträfling  an  die  Mauer  gekettet  steht,  seine  acht- 
undvierzig Stunden  sind  abgelaufen.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Der  wird  nicht  über  heisse  Füsse 
klagen.Du gehst  morgen zumGouverneur?  ERSTER 
W^ÄCHTER:  Wenn  du  ernstlich  einheiraten  willst, 
gehe  ich  zum  Gouverneur. 

DER  MANN:  Gouverneur!  Wo  ist  der  Gouverneur? 
Ich  will  nicht  länger.  ERSTER  WÄCHTER  (zum 
zweitenj:  Hol  mir  die  Schlüssel,  ich  muss  die  Ket- 
ten aufschliessen.  ZWEITER  WÄCHTER:  W^ie- 
viel  hast  du  in  Ketten?  ERSTER  WÄCHTER :  In 
jeder  Rellerzelle  einen. 

DER  MANN:  Die  Ketten  ertrag  ich  nicht  länger. 
Ihr  sollt  mich  haben.  Ich  bin  ein  einfacher  Mensch. 
Die  Augen,  die  durch  die  Gittertüre  grinsen.  In 
der  Nacht  krachen  die  Ketten  an  mir  wie  Stücke 
Eis.  Ich  will  alles  sagen,  was  ihr  haben  wollt.  Ich 
bin  fertig.  Ich  mache  nicht  mehr  mit.  Wenn  ihr 


mich  leben  lasst,  werde  ich  Schreiber.  Ich  werde 
Hausierer,  Ich  werde  Knecht.  Ihr  könnt  mich 
schlagen.  Fragt  mich.  Fresst  mich  doch  aus.  Ihr 
könnt  alles  wissen.  Ich  will  frei  sein.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Wie  frei  der  Kerl  hier  schreien  darf! 
Müsste  ihm  das  Maul  stopfen .  ERSTERWÄCH- 
TER:  Das  ist  noch  nichts.  Am  Anfang  beginnt's 
immer  so  mit  Kleinigkeiten.  Aber  wenn  er  erst 
gegen  uns  tobt,  dann  ist's  Zeit,  ihn  zum  Schweigen 
zu  bringen,  dass  er  jahrelang  noch  Schmerzen 
spürt,  wenn  er  nur  von  einer  Wächterjacke  träumt ! 
DER  MANN:  Ihr  verfluchten  Hunde,  lasst  mich 
frei.  Ihr  Marterschweine,  die  Ketten  herunter !  Ihr 
Lumpendreck,  der  stinkende  Teufel  hat  euch  aus- 
geschissen, ihr  tierisches  Spitzelpack,  ihr  seid  nie 
Menschen  gewesen,  als  Jsägel,  als  Peitschen,  als 
Ketten  seid  ihr  geboren,  darum  quält  ihr  Menschen! 
Ich  spucke  euch  an,  foltert  mich;  schliesst  mir  den 
Mund,  ich  kotze  euch  doch  an.  Stecht  mir  die  Augen 
aus,  und  wenn  ihr  sie  schon  tot  an  die  Erde  ge- 
schmissen habt,  werden  sie  sich  noch  unter  eurem 
Fuss  vor  euch  ekeln!  ERSTER  WÄCHTER;  Er 
beginnt.  Jetzt  ist's  Zeit.  Hol  die  Schlüssel.  Nimm 
die  Gummiknüppel  mit.  Auch  den  Knebel,  es 
brennt  mehr  wenn  er  nicht  schreien  kann.  Bring 
auch  meine  Tochter  mit  dem  Kinde  mit,  es  macht 
der  Kleinen  immer  Spass,  wenn  wir  einen  An- 
fanger vornehmen.  Es  soll  ja  eigentlich  nach  der 
Vorschrift  nicht  sein,  aber  bei  der  Art  Gefangenen 
erfahren  die  Herren  doch  nie,  was  wir  tun !  Mach 
schnell,  die  Sachen  sind  in  meinem  Zimmer,  sag's 
meiner    Tochter.      ZWEITER   WÄCHTER:    Der 

a5 


sieht  bald,   wie  ihm    ohne  Ketten  zumute  wird. 
Wusste  nicht,  dass  ein  Spass  für  das  Mädel  dabei 
ist.     ERSTER  WÄCHTER:  Eil  dich! 
Zweiter  Wächter  ah 

ELFTE  SZENE 
Vorige  ohne  den  zweiten  Wächter 

DER  MANN:  Aus.  Nun  ist  keine  Hoffnung  mehr. 
Ich  war  schwach,  habe  sie  beschimpft.  Die  Gitter- 
stäbe sind  ganz  schwarz  und  fest  da;  erst  waren 
sie  fast  durchsichtig,  dass  ich  glaubte,  ich  könnte 
nur  durch  sie  hindurchgehen,  wenn  die  Ketten 
hart  wären.  Es  ist  so  trübe,  früher  zischte  ein 
blaues  Licht  hinter  mir.  Als  ich  schwach  wurde, 
flammten  ihre  Jacken  auf  wie  gelber  Dampf.  Das 
Leben  ist  vorbei.  Meine  Knochen  werden  in  der 
Dunkelheit  zerkracht  werden,  mein  Fleisch  wird 
mir  heruntergefetzt,  ich  werde  hier  wie  ein  blin- 
der Wurm  mich  zu  Tode  zucken.  ERSTER 
WÄCHTER:  Es  ist  zu  spät,  zu  bereuen.  DER 
MANN:  Bereuen  ?  Welches  Wort.  Ich  bereue  nicht, 
denn  ich  war  es  nicht,  es  war  die  Dunkelheit,  ich 
hatte  alles  an  mir  vergessen.  ERSTER  WÄCH- 
TER: Seit  ich  in  der  Festung  bin,  höre  ich  von 
jedem  Sräfling  dieselben  Worte.  Der  Mensch  än- 
dert sich  nicht.  DER  MANN:  Der  Mensch !  Wo 
war  ich?  Der  Mensch.  Ich  vergass.  Der  Mensch 
ändert  sich  nicht.  Ich  war  es  nicht,  der  gegen  euch 
schrie.  Ich  ändere  mich  nicht,  ich  bin  immer  vom 
Licht  geboren.  Dieses  Gefängnis  hat  gegen  euch 
geschrien,  die  Stäbe,    die  zerpressenden  Mauern, 

26 


die  Ketten.  Ihr  werdet  das  Gefängnis  foltern.  Ich 
bin  der  Mensch  und  ich  lebe  für  den  Menschen. 
Das  Gefängnis  ist  tot  und  morsch.  Ich  habe  dir 
nichts  Böses  gesagt,  Wächter,  die  Mauern  hier 
haben  dich  beschimpft.  Du  bist  ein  Weiser,  du 
warst  gütig;  du  hast  recht:  der  Mensch  ändert 
sich  nicht.  Du  bist  es  nicht  der  mich  quält,  du  hast 
mich  nicht  zum  Hass  gereizt.  Du  bist  ein  Mensch. 
Das  war  das  Gefängnis  um  dich.  Du  wirst  mich 
nicht  foltern,  du  verkaufst  deine  Tochter  nicht 
dem  andern,  du  nicht.  Das  Gefängnis.  Die  gelben 
Flammen  eurer  Jacken,  die  Dunkelheit  um  euch, 
du  nicht,  du  bist  Mensch.  ERSTER  WÄCHTER: 
Schweige.  Reden  wird  bestraft. 
D  E  R  M  A  N  N :  Ich  verstehe.  Oh,  nun  kommen  wieder 
helle  Lichter  um  mich.  Ja,  schweigen  in  sich,  sich 
sammeln.  Nicht  dem  Munde  entlassen,  was  tot  ist 
und  nicht  vom  Menschen  kommt!  Welche  neue 
Ruhe  um  mich.  Diese  Ketten  tönen  an  mir  wie  Sei- 
dengerausch. Wächter,  ich  sehe  jetzt  dein  Gesicht, 
deine  Backenknochen,  deine  Augen.  Dein  Kleid  ist 
nicht  mehr  gelb;  ich  sehe  alles;  es  ist  sanft  und 
hell  um  mich,  Wächter!  ERSTERWÄCHTER: 
Ich  antworte  nicht  mehr.  DER  MANN:  Du  bist 
ein  Mensch  wie  ich,  nicht  niedriger  als  ich.  Du 
brauchst  dich  nicht  zu  rächen.  Du  hast  deinen 
Willen  wie  ich;  du  brauchst  nur  Antwort  zu  wol- 
len. Warum  gibst  du  deine  Tochter  dem  anderen 
Wächter?  ERSTER  WÄCHTER:  Will  versorgt 
sein.  - —  Aber  das  geht  dich  nichts  an!  DER 
MANN:  Nein,  es  geht  mich  nichts  an,  du  hast 
recht.  Es  geht  deine  Tochter  an;  weisst  du,  wenn 

27 


sie  will,  könnte  sie  eine  feine  Dame  sein.  ERSTER 
WÄCHTER:  Hat  schon  ihr  Kind  von  der  Feinheit. 
DER  MANN:  Eine  grosse  Dame,  eine  Gräfin,  eine 
Prinzessin,  eine  Fürstin!  ERSTER  WÄCHTER: 
Wir  sind  arme  Leute,  nicht  einmal  wenn  Urlaub 
ist,  kriegen  wir  grosse  Damen  zu  sehen.  DER 
MANN:  Aber  ihr  seid  Menschen,  man  vergisst  das 
mitunter.  Du  brauchst  nur  zu  wollen.  Den  festen 
Willen  haben,  dann  kommt  alles.  Ich  will  auch. 
ERSTER  WÄCHTER:  Nützt  dir  nichts.  Was 
kannst  du  machen?  DER  MANN:  Viel,  Nachbar; 
höre,  warum  hast  du  keine  Auszeichnung  auf 
der  Brust?  ERSTER  WÄCHTER  :  Unsereiner  hat 
noch  Jahre  zu  dienen,  ehe  er  die  Medaille  kriegt. 
DER  MANN:  Medaille  —  nein.  Ich  könnte  dir  ei- 
nen Orden  verschaffen,  einen  schönen  Orden,  zwei- 
ter Klasse  für  Ehrendienste.  ERSTER  WÄCHTER: 
Einen  Orden  —  ohne  dass  ich  auf  Krücken  ginge? 
DER  MANN:  Du  brauchst  nicht  auf  Krücken  zu 
gehen.  Du  sollst  deine  geraden  Glieder  haben  als 
richtiger  Mensch.  Deine  Tochter  bekommt  einen 
vornehmen  Mann.  Du  brauchst  nicht  mehr  in  den 
feuchten  Gängen  im  Dunkel  zu  leben.  Ihr  lebt  wie 
Menschen,  im  hellen  Licht,  unter  Menschen,  in 
der  Freiheit.  ERSTER  WÄCHTER:  In  der  Frei- 
heithabeichlangenichtmehrgelebt.  DER  MANN: 
Aber  ich.  Ich  kenne  sie.  Ich  lebe  für  die  Freiheit. 
Kamerad,  ich  befreie  dich!  ERSTER  WÄCHTER: 
Freiheit,  o  das  habe  ich  schon  seit  Jahren  verges- 
sen. Man  brauchte  nicht  Dienstberichte  mehr  ab- 
zufassen. Niemand  war,  der  mir  kommandierte. 
Leben  unter  feinen  Menschen.  Man  könnte  ganz 

28 


von  vorn  anfangen,  als  wenn  man  jung  wäre.  DER 
MANN:  Du  bist  jung.  Wer  von  vorn  anfängt,  ist 
jung.  ERSTER  WÄCHTER:  Aber  du  bist  ja  selbst 
nicht  frei!  DER  MANN:  Ah,  ich  nicht  frei?  Schau 
zu  mir  herein,  was  siehst  du?  Siehst  du  meine 
Ketten?  Nein,  du  siehst  meine  Augen,  die  umher- 
gehen, wie  sie  wollen.  Du  siehst  meinen  Mund, 
der  zu  dir  spricht,  die  Lippen,  die  Zähne,  die 
Zunge;  meinen  Kopf  siehst  du,  der  jahrelang  für 
dich  gedacht  hat!  Ich  sage  dir,  Kamerad,  Bruder, 
erinnere  dich,  dass  du  ein  Mensch  bist,  wie  ich. 
Sei  frei!  ERSTER  WÄCHTER:  Und  meine  Frau, 
meine  Tochter  und  das  kleine  Kind?  DER  MANN: 
Lass  sie.  Geh,  schnell.  Du  hast  Jahre  Zeit  gehabt, 
nun  ist  die  Stunde  für  dich  gekommen,  lass  sie 
nicht  vorbeigehen.  Sie  kommt  auch  für  die  andern. 
Kümmere  dich  zuerst  um  dich. 
ERSTER  WÄCHTER:  Bruder,  was  soll  ich  tun? 
Ich  weiss,  das  Leben  ist  nun  anders  für  mich.  Ich 
will  keinen  Orden.  Ich  will  dir  helfen.  DER  MANN: 
Hilf  mir  nicht,  hilf  dir,  Bruder.  ERSTER  WÄCH- 
TER: Bruder,  sag  das  Wort !  Ich  bleibe,  was  ich  bin. 
Ich  schaffe  dich  aus  dem  Gefängnis.  DER  MANN: 
Nein,  ich  bleibe.  Gehe  du,  schnell,  eh  die  andern 
kommen!  Hinaus,  eil  dich,  für  immer  aus  der 
Festung,  zu  den  Brüdern.  Sie  brauchen  neue 
Menschen,  hilf  ihnen.  ERSTER  WÄCHTER: 
Freund,  nimm  diesen  Händedruck  von  mir,  ich 
bin  ein  alter  Mann.  Wo  sind  sie?  DER  MANN: 
In  deiner  Hand  pulst  ein  Siebzehnjähriger.  Draus- 
sen  wartet  das  Schiff  auf  die  neuen  Menschen. 
Ich  weiss,  heute  nacht  geht  es  aufs  Meer.  ERSTER 

29 


WÄCHTER:  AufdasSchifflUnddu?  DER  MANN: 
Ich  bleibe.  Ich  gehe  nicht  eher,  als  diese  Mauern 
vor  meinem  Mund  in  Freiheit  zerwehen.  Geh,  du 
musst! 

ERSTER  WÄCHTER:  Das  Blut  stürzt  durch  mich, 
als  wäre  ich  über  Äcker  und  Flüsse  gesprungen. 
Ich  will!  Zu  den  Brüdern!  aufs  Schiff!  (Ab) 
DER  MANN:  Grosse  helle  Wölbung  Licht  strahlt. 
Lichtschalen  schweben  um  mich  her.  Eine  blaue 
sanfte  Flamme  rollt  durch  mein  Blut.  Durch  die 
Mauern  brennen  meine  Augen  Licht wurf.  Dieses 
Haus  ist  weiches  Glas. 

ZWÖLFTE  SZENE 
Der  Mann  /  Der  zweite  Wächter 

ZWEITER  WÄCHTER (Äommf): Hier dieSchlüssel^ 
deine  Tochter  bringt  die  Buckeljucker.  DER 
MANN:  Zu  spät.  Wir  sind  allein.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Maul  gehalten  endlich.  Straf hnge! 
Wo  bist  du,  Alter?  DER  MANN:  Was  nützen 
deine  Folterwerkzeuge.  Wir  sind  allein.  ZWEI- 
TER WÄCHTER:  Still.  Der  Alte  kommt  gleich; 
dann  vergeht  dir  das  Geschwätz.  DER  MANN: 
Der  Alte  ist  fort,  für  immer.  ZWEITER  WÄCH- 
TER: Was  heisst  das?  Du  bist  fest,  in  Ketten,  du 
hast  ihn  nicht  erschlagen.  Wo  ist  er?  Im  Hause 
geht  was  vor.  Meuterei!  DER  MANN:  Freiheit. 
Er  ist  in  die  Freiheit!  ZWEITER  WÄCHTER: 
Zu  Hilfe!  DER  MANN:  Niemand  hilft  dir.  Du 
kannst  dir  nur  selbst  helfen.  ZWEITER  WÄCH- 
TER:  Was  soll  ich   tun?  Ich  steh  unter  seinem 

3o 


Befehl?  DER  MANN:  Befiehl  dir  selbst.  Was 
willst  du?  ZWEITER  WÄCHTER:  Ich  kann  nicht. 
Ich  weiss  nicht  wohin.  Wenn  der  Gouverneur 
kommt,  werde  ich  davongejagt.  DER  MANN: 
Dann  bist  du  frei.  ZWEITER  WÄCHTER:  Ich 
kann  nicht.  Ich  sollt  seine  Tochter  kriegen;  feste 
Anstellung,  doppelte  Dienstjahre.  Ich  verhungere. 
Was  soll  ich  denn  machen.  DER  MANN:  Halte 
dich  an  die  Menschen.  ZWEITER  WÄCHTER: 
Ich  kenne  keine.  Vielleicht  bist  du  ein  Mensch. 
Vielleicht  kannst  du  helfen.  Sträfling,  hilf  mir! 
DER  MANN  :  Du  musst  die  Tochter  lassen.  ZWEI- 
TER WÄCHTER:  Mir  ist  sie  gleich,  die  Hure.  Sag 
nur,  was  ich  tun  soll!  DER  MANN:  Du  bist  jung. 
Du  hast  Kraft.  Draussen  vor  der  Stadt  warten  die 
Kameraden  im  Schiff.  Geh  zu  ihnen.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Ja,  ich  gehe.  Ich  tue  alles,  was  du 
sagst.  Aber  wem  soll  ich  da  gehorchen?  DER 
MANN:  Du  sollst  keinem  Menschen  gehorchen,  nur 
dir.  ZWEITER  WÄCHTER:  Ich  kann  nicht.  Ich 
muss  meinen  Befehl  haben.  —  Gleich  kommt  die 
Tochter,  dann  weiss  ich  nichts  mehr.  Ich  schliesse 
deine  Zelle  auf,  ich  nehme  deine  Ketten  ab.  Schnell, 
komm  mit  mir.  Sag,  wohin!  DER  MANN:  Nein. 
ZM^EITER  WÄCHTER:  Ich  flehe  dich  an,  komm 
mit  mir.  DER  MANN :  Nein.  ZWEITER  WÄCH- 
TER: Komm  mit  mir,  du  bist  frei,  du  sollst  nicht 
mehr  gefangen  sein.  Hier  sind  die  Schlüssel.  Ich 
halt  es  nicht  inehr  aus,  das  Haus  erwürgt  mich. 
Rette  mich!  DER  MANN:  Besinne  dich,  du  bist 
ein  Mensch,  du  bist  frei.  Hast  du  eine  Mutter? 
ZWEITER  WÄCHTER:  Nein,  was  fragst  du?  Ich 

3i 


kann  nicht  mehr!  Ich  hab  sie  erschlagen,  als  ich 
zu  den  Soldaten  ging,  niemand  weiss  es.  Oh,  die 
Schlüssel  brennen  wie  glühend  in  meiner  Hand, 
weg  mit  ihnen!  Verdammt,  warum  bin  ich  je  her- 
geraten! DER  MANN:  Aufs  Schiff,  in  das  neue 
Leben,  die  Kameraden  helfen  dir.  ZWEITER 
WÄCHTER:  Es  ist  aus;  die  Tochter  kommt!  DER 
MANN:  Fort  mit  dir.  Vergiss  diese  Festung.  Laufe! 
Schnell  in  die  Freiheit,  unter  Menschen,  in  ein 
neues  Leben.  ZWEITER  WÄCHTER.  Menschen! 
Hilfe!  Menschen!  (Ah). 

DREIZEHNTE  SZENE 
Der  Mann  /  Später  Anna  mit  dem  Kind. 
DER  MANN:  Und  nun,  Wunder,  sei  hei  mir.  Licht 
strahle  aus   mir.    Lass  diese    Eisen    an   mir    ver- 
brennen, wie  die  Jahre  im  Hauch  der  Erde. 
Die   Tochter  des  Wächtei's,   Anna,   kommt  mit 

dem,  Kinde  an  de?-  Hand. 
ANNA:  Wo  seid  ihr,  Lumpenkerle?  Jämmerlinge 
sind  diese  Männer.  In  der  Festung  rumorts,  und 
ihr  seid  nicht  zu  finden,  habt  euch  verkrochen 
wie  die  Schnecken,  damit  keiner  von  euch  dafür 
einsteht!  DER  MANN:  Sie  sind  fort!  ANNA: 
Fort?  Was  für  eine  zimperliche  Stimme.  Bist  du 
das,  Sträfling,  hast  du  schon  dein  Teil  gekriegt, 
komm  ich  zu  spät?  DER  MANN:  Die  Wächter 
sind  fort.  ANNA:  Was  soll  das ?  Warum  ist  keiner 
hier?  Ich  will  mein  Leben  haben!  Seit  Tagen  spitz 
ich  drauf,  dass  der  Alte  dir  den  Buckel  vollschlägt. 
Soll  ich  vielleicht  an  den  Gitterstangen  rauf  und 

32 


runter  mischen?  DER  MANN:  DeinKind!  ANNA: 
Das  Rind?  Sieht  oft  {^eniig  zu.  Wo  sind  die  andern? 
DER  MANN:  Frei.  ANNA:  Was  redest  du  da  sinn- 
los? DER  MANN:  Am  Boden  liejjen  die  Schhissel! 
ANNA:  Die  Sclilüssel.  Wer  hat  sie  hingeworfen? 
DER  MANN:  Dein  Bräutigam.  Er  ist  fort.  ANNA: 
Bräutigam?  Der  Weichhng.  Wo  ist  mein  Vater?  — 
Aber  was  frag'  ich  dich,  den  Straf hng?  DER 
MANN:  Dein  Vater  ist  mein  Kamerad,  mein  Bru- 
der. Unter  die  Menschen,  Kameraden.  In  ein  neues 
Leben.  In  die  Freiheit.  ANNA:  In  die  Freiheit? 
Der  alte  Narr.  Keiner  mehr  da:  warte  einmal,  dich 
will  ich  mir  schon  holen.  —  Da  die  Schlüssel.  Ich 
mach  dir  jetzt  auf.  Hast  du  Hunger,  oder  bist  du 
schon  mürbe  geworden  im  Keller?  DER  MANN: 
Mach  meine  Zelle  nicht  auf.  ANNA:  Ho,  du  wärst 
ja  der  erste  Sträfling,  der  gefangen  bleiben  wollte. 
DER  MANN:  Ja,  ich  will  bleiben,  geh!  ANNA: 
„Geh"!?  Wohin  denn?  Vielleicht  zu  den  andern? 
Hab  ich  nicht  nötig.  Hab  an  mir  genug.  KIND: 
Mutter,  an  mir!  ANNA:  Schweig,  Fratze.  Sei  froh, 
dass  du  überall  dabei  bist!  KIND:  Mutter,  hier 
ist  es  nicht  lustig.  DER  MANN:  Da  liegen  die 
Schlüssel.  Die  andern  sind  fort,  selbst  der  Gouver- 
neur ist  fort.  Wir  sind  die  einzigen.  ANNA:  Sie 
sind  toll  geworden.  DER  MANN:  Nein,  nicht  toll. 
Sie  sind  frei.  DAS  KIND:  Mutter,  hier  ist  ein 
Schlüsselbund.  Horch  nur,  wie  schön  das  klingelt! 
DER  MANN:  Dein  Kind  hat  die  Schlüssel.  Das 
ganze  Haus  ist  in  deiner  Macht.  ANNA:  In  meiner 
Macht?  (Das  Kind  klingelt  mit  dem  Schlüsselbund.) 
Ich  habe  noch  nie  Macht  gehabt,   was  kann   ich 

3    Rubiner,  Die  Gewaltlosen  33 


damit  tun?  —  Ha,  ich  weiss,  du  willst  heraus!  — 
O  ich  kenne  die  Menschen.  DER  MANN:  Ich  will 
nicht  von  dir  befreit  sein.  Ich  will  dich  befreien! 
ANNA:  Mich  befreien!  (Das  Kind  klingelt.)  Was 
soll  ich  damit.  Ich  kenne  nur  Lust,  und  ich  kriege 
jeden  Mann,  den  ich  will,  es  sind  genug  an  die 
Mauer  geschlossen.  Es  ist  alles  nicht  wichtig,  und 
nachher  ist  alles  wie  es  immer  war.  DER  MANN: 
Doch,  es  ist  alles  wichtig.  Es  bleibt  nicht,  wie  es 
war.  Du  hast  die  Macht.  Du  kannst  davongehen 
und  alle  Gefangenen  im  Hause  verhungern  lassen. 
ANNA:  Es  kommt  vielleicht  nicht  mehr  darauf  an. 
Wir  haben  sie  schon  halb  tot  gequält.  DER  MANN: 
Aber  du  kannst  auch  fortgehen,  Feuer  an  das  Haus 
legen  und  die  Schlüssel  hineinwerfen!  ANNA: 
Das  will  ich  nicht. 

DER  MANN:  Sieh  auf  diese  Schlüssel.  Sie  sind  hell. 
Ein  Licht  geht  von  ihnen  aus.  Jeder  ist  eine  kleine 
blaue  Flamme.  Das  kommt  aus  uns  und  das  geht 
wieder  zu  uns  zurück.  Alle  Menschen,  die  einmal 
geliebt  haben,  haben  ihren  Hauch  in  diese  Gefäng- 
nisschlüssel geschickt.  Sieh,  wie  es  um  sie  strahlt. 
Du  hast  dein  Leben  in  den  Folterkellern  verbracht, 
du  kennst  die  Menschen  im  Dunkel,  du  sahst  auf 
ihren  Gesichtern  nur  Gewalt.  Du  hast  nur  die 
Angst  und  die  Gier  gesehen.  Aber  als  du  dein  Kind 
bekamst,  in  der  Nacht,  im  dunkelsten  Schlaf,  in 
deinen  Träumen, da  wares  bei  dir  hell,  du  wusstest, 
dass  du  auch  geliebt  werden  kannst;  bei  dir  stand 
ein  strahlender,  schöner  Mensch  in  weissem  Licht, 
den  hast  du  geliebt,  für  den  warst  du  da.  Der  war 
in  dir.  Und  nur  am  Tage  fandest  du  die  Gemein- 

34 


heit  in  den  Gefängniskellern.  Dein  Leben,  wenn 
du  bei  dir  warst,  wenn  du  ruhtest,  dein  Leben  in 
dir:  war  Liebe  und  Helligkeit.  Du  warst  geliebt. 
Du  kannst  helfen!  ANNA:  Helfen!  (Das  Kind 
klingelt  mit  den  Schlüsseln.)  DER  MANN:  Hilf!  Du 
wirst  den  andern  helfen,  allen.  Diese  Schlüssel, 
dieses  kleine  klingende  Blinkfeuer  weht  die  Ge- 
fängnisniauern  um !  ANNA:  Helfen.  —  Ich.  — 
Mir  ist  so  sanft.  Wer  bin  ich?  Ich  bin  ganz  allein. 
Ich  schwebe  hinauf,  ich  fliege,  ich  bin  so  leicht. 
Um  mich  ist  nur  weisses  Licht.  Ich  will  hinaus  in 
das  Licht,  hinauf.  Ich  bin  nicht  mehr  allein.  Sie 
schweben  alle  in  dem  Licht;  der  Alte  schwebt  da 
mit  dem  langen  Bart,  den  sie  dreimal  in  der  Woche 
hun(;ern  lassen.  Über  mir  —  der  hält  mir  die 
Hände  entgegen,  goldene  Flammen  —  der  Ge- 
schlagene, den  sie  an  die  Mauer  gekettet  haben. 
O,  da  bist  du,  ganz  hoch  oben,  ganz  weit,  du,  du 
\Ninkst  mir,  du  bist  zu  weit,  ich  kann  nicht  zu 
dir  kommen,  hilf  mir,  du —  DER  MANN:  Ich 
bin  dir  nah  ANNA:  O  habe  ich  dich  gesehen? 
Habe  i(  h  dich  geliebt?  Liebe  ich  dich?  Bist  du  es? 
DP:r  MANN:  Nein,  nicht  ich.  Alle.  Du  bist  auser- 
wählt. Dein  Leben  wird  Aufscheinen  unter  den 
Menscht-n  sein.  Hilf  ihnen!  ANiNA:  Ich  bin  ganz 
neu.  Ich  habe  das  nicht  gewusst.  Was  ist  das  in 
mir?  DER  MANN:  Freiheit.  ANNA:  O  ich  bin 
dir  ganz  nah,  ich  könnte  durch  dich  hindurch- 
gleiten, verschwinden  um  dich,  über  dir,  unter 
dir,  um  die  h  sein.  Ich  könnte  dein  Bett,  deine  Bank 
sein,  deine  Wand,  dein  Gitter,  deine  Ketten,  deine 
Zelle,  das  Haus  um  dich.   Das  alles  ist  fort.  Ich 

3»  35 


sehe  nichts  mehr,  nur  Licht,  auf  und  ab  und 
schwebende  Menschen  drin.  —  Freiheit!  —  (bricht 
zusammen.)  Das  Kind  klingelt  lange  mit  den 
Schlüsseln. 

DER  MANN:  Freundin,  Schwester,  Kameradin! 
Hilf  ihnen!  ANNA:  Wohin?  DERMAN.N:  Auf 
das  Schiff.  In  das  neue  Leben.  Die  Brüder  warten. 
ANNA:  Und  du?  DER  MANN:  Erst  sie!  Befrei- 
ung, alle,  sie  warten  jahrelang!  ANNA:  Freiheit. 
O  Freiheit  für  die  Menschen!  Und  dass  ich  meine 
Augen  und  meine  Hände  und  meinen  Leib  habe, 
ihnen  zu  helfen!  Ich  gebe  ihnen  die  Freilieit,  ich 
Arme!  Aber  sind  sie  nicht  begraben  und  vermodert 
und  vergessen?  Zu  Hilfe,  o  her  zu  mir,  zur  Frei- 
heit! (Ah) 

VIERZEHNTE  SZENE 
Der  Mann  /  Das  Kind 

DAS  KIND  (lässt  die  Schlüssel  /allen):  Die  Mutter 
läuft  in  die  Keller  hinunter.  Hörst  du  wie  sie  an 
den  Türen  schreit?  Ich  will  mit!  DEK  MANN: 
Nein,  bleibe  hier.  Die  Mutter  will,  dass  du  bei  mir 
bleibst.  DAS  KIND:  Hörst  du,  wie  sie  unten 
schreien?  Ich  habe  Angst.  DER  MANN:  Hast  du 
oft  Angst?  DAS  KIND:  Nein  sonst  nie.  DEK  MANN: 
Du  brauchst  auch  jetzt  keine  Angst  zu  haben.  Ich 
bin  ja  hei  dir.  DAS  KIND:  Du  bist  aber  ein  Ge- 
fangener! DER  MANN:  Nein,  nicht  mehr!  Hörst 
du,  sie  haben  aufgehört,  jetzt  ist  es  ganz  still. 
DAS  KIND:  Ich  glaube,  ausser  uns  beiden  ist  nie- 
mand mehr  da.    DER  MANN:   Mein  Kind,  das  ist 

36 


die  Freiheit.  DAS  KIND:  Wasist  das,  die  Freiheit? 
DER  MANN:  Die  Mutter  wird  es  dir  sagen.  Nimm 
die  Schlüssel  und  schhesse  hier  auf.  (Das  Kind 
sc/iliesst  die  Zelle  auf  )  D  A  S  K I N  D :  Führst  du  mich 
auch  zur  Mutter?  DER  MANN:  Ja,  ich  führe  dich 
zur  Mutter.  Nun  wirst  du  bald  mit  vielen  lustigen 
Menschen  spielen,  willst  du?  Wir  gehen  mit  deiner 
Mutter  auf  ein  ganz  grosses  Schiff,  schönes  Schiff. 
DAS  KIND:  Ich  war  noch  nie  auf  einem  Schiff. 
DER  MANN:  Nun  hier  noch  den  kleinen  Schlüssel 
für  die  Ketten.  Mein  Kind,  du  hast  das  Wunder 
gesehen  !  (Die  Ketten  fallen  ab.) 
Dunkel 


FÜNFZEHNTE  SZENE 

Das  Schiß  am  Hafen 

N  a  u  k  e  am  Landungssteg  geht  als  Posten  hin  und  her. 
(n  A  ü  K  E  in  teils  zu  lueilem,  teils  viel  zu  kurzem  An- 
zug mit  sehr  kleinem  Kinderkragen.)  N  A  U  K  E :  Auf — 
ab.  Auf —  ab.  Kehrt!  Nauke  auf  Wache!  Was  sag 
ich:  Wache?  Revolutionsposten!  Eine  Ehre,  Nauke» 
eine  Ehre,  das  bitt  ich  mir  aus!  Das  hätt  auch  nie- 
mand gedacht!  In  dieser  Zeit  hat  jeder  Posten  den 
Präsidenienstuhl  im  Tornister.  Präsidentenstuhl? 
Ein  ganz  gewöhnlicher  Lehnsessel  war  mir  jetzt 
lieber.  (Gähnt.)  Auf —  ab.  Auf —  ab.  Kehrt!  Ver- 
dammt kalt!  Orossartige  Revolution  —  und  nicht 
einmal  einen  Tropfen  zu  trinken!  Aber,  aber,  aber 
Nauke!  (schlägt  sich  auf  den  Mund,  sieht  sich  um) 
wenn  das  nur  niemand  gehört  hat!  Na,  wartet  nur, 

3? 


wenn  ich  erst  mal  dran  bin,  dann  wird  ein  Fäss- 
chen aufgeschlagen,  ein  Fässchen,  —  mit  einem 
Wort:  ein  Revolutionsfässchen!  .  .  .  Auf  —  ab. 
Auf  —  ab.  Ich  hoffe  doch,  so  wirds  nicht  weiter 
gehen,  sonst  könnt  mir  die  ganze  Revolution  ge- 
stohlen .  .  .  (fährt  zusammen,  sieht  sich  ängstlich 
um,  klopft  sich  wieder  auj  den  Mund):  Gesegnet  sein, 
natürlich  gesegnet  sein,  Nauke!  —  Das  ist  öde  hier. 
Da  wird  einem  so  schön  gesagt:  „Du  erwartest  die 
Brüder"  —  und  dann  kommt  keiner.  Nicht  einmal 
die  Schwestern,  die  kleinen  Schwestern!  Hätt  ich 
nur  was  zu  trinken,  dann  könnt  ich  meine  Revo- 
lutionsrede ebenso  gut  halten,  wie  die  Andern.  Ich 
glaube,  den  beliebten  Ton  treff  ich  herrlich.  In 
der  Art:  „.  •  .  Brüder,  Schwestern,  Eure  Zukunft 
liegt  auf  der  Liebe!"  Wunderschön!  Es  geht,  es 
geht,  Nauke!  Du  wirst  deinen  Weg  machen! 

Ayn  Hafen  vor  dem  Landungssteg  nähern  sich  Klotz 
und  die  Frau 


SECHZEHNTE  SZENE 
Nauke  /  Später  Klotz  /  Die  Frau 

NAUKE:  Es  ist  schon  Morgen.  Und  ich  bin  immer 
noch  trocken.  (Bemerkt  die  Beiden,  nimmt  fVürde 
an:)  Halt,  wer  da?  Ah,  ihr  seid  es !  Wo  bleiben  die 
Kameraden?  KLOTZ:  Sie  müssen  kommen,  sie 
haben  das  Zeichen  gegeben.  NAüKE:  Bist  du 
sicher,  dass  sie  frei  sind?  Wir  können  nicht  mehr 
warten.  DIE  FRAU:  Nur  noch  einen  Augenblick 
Geduld!  Ich  möchte  auch  lieber  mit  Euch  auf  ho- 

38 


her  See  sein,  uns  brennt  die  Polizei  am  Nacken. 
N  AUKE:  Wenn  wir  so  lange  warten,  bis  die  erste 
Runde  kommt,  sind  wir  verloren.  Dann  merken 
sie,  dass  wir  die  Offiziere  eingeschlossen  haben. 
DIE  FRAU:  Ihr  habt  sienichtumgebracht?  KLOTZ: 
Das  hat  keiner  von  uns  beschlossen,  NAÜKE: 
Da  kommt  ihr!  Schnell;  letzter  Augenblick! 


SIEBZEHNTE  SZENE 

Vorige  /  Der  Gouverneur 

Der  Gouverneur  kommt 

DER  GOUVERNEUR:  Sindalleda?  NAUKE:  Nein, 
aber  wir  können  nicht  länger  warten,  sonst  sind 
wir  entdeckt.  DER  GOUVERNEUR:  Wir  müssen 
auf  die  Kameraden  warten!  Wir  müssen  die  Ge- 
fahr auf  uns  nehmen.  DIE  FRAU:  Wir  sind  ver- 
loren, da  sind  schon  Leute,  die  nicht  zu  uns  ge- 
hören. 

ACHTZEHNTE  SZENE 

Vorige  /  Der  alte  Mann  /  Der  Junge 

Der  alle  Mann  und  der  Junge  von  der  St7^asse  sind 
gekommen  und  streichen  umher 

DER  JUNGE:  Matrose,  hast  du  nicht  'ne Zigarette, 
mir  stehen  die  Augen  aus  dem  Kopf,  habe  schon 
so  lange  nichts  mehr  im  Magen.  DER  ALTE  MANN: 
Lasst  mich  doch  mal  einen  Augenblick  sitzen,  ich 
geh  schon  seit  Tagen  ohne  Obdach,  mir  ist  es  so 
kalt.    NAÜKE:    Verboten.  Niemand  darf  an  Bord. 


NEUNZEHINTE  SZENE 

Vorige  /  Der  erste  Wächter  /  Der    zweite 
Wächter 

Der   erste  Wächter   verwii^rt  auf  der   Flucht y 

läuft  auf  das  Schiß  zu,  hinte?-  ihm  der  zweite 

Wächter 

ERSTER  WÄCHTER:  Kameraden?  NAUKE:  Wo- 
hin? ERSTER  WÄCHTER:  Ins  neue  Leben. 
ZWEITER  WÄCHTER  (erreicht  ihn):  In  die  Frei- 
heit !  NAUKE  (macht  Platz):  Eilt  euch ! 
Erster  und  zweiter  Wächter^  Klotz  und  F?-au,  Gou- 
verneur werden  von  Nauke  über  den  Steg  an  Bord 
geschoben. 

DER  ALTE  MANN  UND  DER  JUNGE:  Ich  will 
auch  an  Bord.  Ich  will  mich  setzen.  Was  zu  essen ! 
Warum  sollen  die  es  besser  haben! 


ZWANZIGSTE  SZENE 

Vorige  ohne  den  ersten  Wächter  /  Zweiter 
Wächter/Klotz/Die  Frau/DerGouverneur 

Volksmenge  ist  dazu  gekommen  ^  streicht  am  Lan- 
dungssteg umher 

RUFE:  Wir  wollen  aufs  Schiff!  Aufs  Schiff! 
NAUKE  (zu  den  Kameraden  auf  dem  Landungssteg 
und  an  Bord):  Jetzt  ist  es  zu  spät.  Der  Lärm  ver- 
rät uns.  Wir  müssen  abstossen.  Wer  nicht  da  ist, 
muss  an  Land  bleiben.  DIE  FRAU:  Nur  eine  Se- 
kunde noch,  sie  müssen  ja   kommen!     NAUKE: 

4o 


Nein!  Da,  der  Lärm  an  Bord?  Wir  sind  verraten! 

(Ruft  ins  Schiß):    Kameraden,   Wache,    zu    den 

Wafftn! 

Lärm  ort  Bord 


EINÜNDZWAISZIGSTE  SZENE 

Vorige  /  Anna  /  Der  erste  Gefangene  /  Der 

zweite  Gefangene 

ANNA  (komint  atemlos  auf  der  Flucht  mit  einem 
alten,  weissbärtigen  Gefangenen  und  einem, 
zweiten  jüngeren  Gefangenen):  Hier,  kommt 
doch,  wir  sind  da,  wir  sind  in  Freiheit!  Helft  mir, 
schnell,  sie  können  nicht  gehen!  fDer  alte  Widder 
Junge  Gefangene  werden  über  die  Landungsbrücke 
an  Bord  geschoben).  ANNA  (will  an  Bord):  Halt, 
wo  ist  mein  Kind? 

Neuer  Lärm  an  Bord 
NAUKE:  Alle  an  Bord  !  Jede  Hand  ist  nötig!   Ab- 
stossen!     ANNA:  Nein,  halt!  W^o  ist  mein  Kind? 
Ich  gehe  nicht  eher! 

ZWEIUNDZWANZIGSTE  SZENE 

Vorige  /  Kapitän  /  Matrosen 
Oben  auf  dem  Deck  der  Kommandobrücke  erscheint 
ein  Kapitän,  U7vgeben  von  einem  Knäuel  ringen- 
der Matrosen 

KAPITÄN:  Hilfe,  Meuterei  an  Bord,  Hilfe!  DAS 
"VOLK  am  Hafen  kommt  in  immer  gy^össeren  Scharen. 
DER  JUNGE  (ruft):  Runler  mit  dem  Kapitän! 

4i 


DREIUNDZWANZIGSTE  SZENE 

Vorige  /  Gouverneur  /  Erster  Wächter 
Zweiter  Wächter  /  Später    der  Mann    und 

das  Kind 
^vj  der  Kommandob}-iiche  tauchen  der  Gouver- 
neur, erster  und  zweiter  Wächter  au/,  und 

üherivältigen  den  Kapitän. 
GOUVERNEUR:  Anker  lichten!  Abstossen !  ANNA: 
Mein  Kind!  Klotz!  Zu  Hilfe!    (Der  Mann  kommt 
mit  dem  Kind  auf  den  Armen.) 

VIERUNDZWANZIGSTE  SZENE 
Vorige  ohne  den  Kapitän 
DER  MANN:  Kameraden!  —  Freiheit!   DAS  VOLK: 
Das  Militär  !  (Der  Ma  n  n  lässt  das  Kind  zur  Erde. 
Anna  läujt  ihrem  Kind  entgegen.  Der  Mann  be- 
tritt das  Schiß.) 

Trommelwirbel  hinter  der  Szene 
DAS  VOLK:  Die  Soldaten! 

FÜNFUNDZWANZIGSTE  SZENE 
Die  Tochter  eilt  mit  dem  Kind  an  der  Hand 
auf  das  Schiff.  Am  Schiffseingang  erscheint^  im 
Schiß,  —  imnitten  des  Knäuels  von  Kämpfenden 
der  Kapitän,  ringt  sich  los,  springt  auf  den  Lan- 
dungssteg. Der  Kapitän  packt  das  Kind  an  der 
Hand  und  springt  mit  ihn  an  Land.  Im  seihen  Mo- 
ment ivird  der  Landungssteg  ins  Schiff  eingezogen. 
Man  hört  einen  Ruf:   „Die  Anker !'"''  Die  Anker 

gehen  hoch 
ANNA  (am  Schi jff seingang):  Mein  Kind!  (Sie  wird 
zurückgerissen .) 


SECHSÜNDZWANZIGSTE  SZENE 

Vorige  /  Der  Offizier  /  Soldaten 

Militär  tritt  auj^  an  der  Spitze  der  OJßzier 

KAPITÄN:  Meuterei!  Ergebt  euch,  das  Kind  ist 
Geisel !  DER  GOUVERNEUR  (ohen  auf  dem  Ver- 
deck): Unsere  Geiseln  sind  die  Deckoffiziere.  DER 
OFFIZIER:  Das  Kind  wird  erschossen !  ANNA: 
Sie  werden  es  nicht  wagen!  DER  GOUVERNEUR 
(auj  der  Kommandobrücke):  Wir  erschiessen  die 
Deckoffiziere!  ERSTER  UND  ZWEITER  W^ÄGH- 
TER  (neben  dem  Gouverneu?):  Nein,  wir  schiessen 
mcht,BrüderkeineGewalt!  KLOTZ :Kameraden,ihr 
seht  wir  können  nur  mit  Gewalt  das  Rind  befreien, 
nur  jetzt  nicht  weich  sein!  ANNA:  Mein  Kind! 
Sie  werden  es  nicht  wagen!  Nein,  nicht  schiessen. 
Nicht  Gewalt!  Du  hast  uns  gelehrt:  Nicht  Gewalt! 
DER  OFFIZIER  f unten  am  Hafen):  Ergebt  euch, 
zum  letzten  Mal!  DAS  VOLK:  Das  Schiff  stösst  ab! 
DER  OFFIZIER  (reisst  den  Revolver  het^vor,  zielt 
auf  das  Kind):  Hallet  das  Schiff  an!  DER  JUNGE 
AUS  DER  MENGE:  Das  Schiff  fährt  ab!  (Der 
Offizier  gibt  Feuer.  Das  Kind  sinkt  tot  um.  Das 
Volk  durchby^icht  die  Kette  der  Soldaten.)  DAS 
VOLK:  Mörder!  DER  OFFIZIER:  Mörderlich 
Mörder!  (Er  springt  auf  den  Schi ^ seingang  und 
befindet  sich  auf  dem  Schiff  vor  Anna,  die  mit 
geballten  Fäusten  vor  ihm  steht.  ALLE  RR Ü DER 
auf  dem  Schiff  rufen  gleichzeitig  einstimmig :  Wir 
töten  nicht!!! 


43 


SIEBEKUNDZWAISZIGSTE  SZENE 

Auf  dem  Schiff 
Der  Hafen^  das  Volk  und  das  Militär  werden  in  die- 
sem Moment  in  Dunkel  gehüllt,  man  hört  nur  noch 
ferne,   dumpje  Stimmen.  Nur  das  Schiß  selbst  ist 
hell  beleuchtet 
Vorige  ohne  das  Volk  und  das  Militär 
DER  OFFIZIER:  Ich  Mörder!  [ch  habe  es  gemor- 
det!  Hier  bin  i(  h,  macht  mit  mir,  was  ihr  wollt! 
Ich  will  nicht  länger  leben! 

ERSTER  UND  ZWEITER  WÄCHTER,  DER 
MANN  UND  DIE  FRAU:  Nicht  schiessen! 
KLOTZ:  Kameraden,  der  letzte  Kampf !  ERSTER 
UND  ZWEITRR  WÄCHTER,  DER  MANN  UND 
DIE  FRAU:  Nicht  Gewalt!  Brüderschaft!  DER 
OFFIZIER  fspringt  auf  den  Gouverneur  zuj:  Ich 
will  "nicht  mehr  leben!  Macht  mich  nieder,  gleich! 
DER  GOUVERNEUR:  Mörder,  Mörder.  Ich  müsste 
dich  töten.  Ich  kann  es  nicht  mehr.  Die  um  uns 
sind  stärker  als  unsere  rohen  Hände.  Hier  ist  Frei- 
heit, MATROSEN:  Das  Schiff  ist  auf  See!  Hohe 
See!  ANNA:  Mein  Kind,  —  Mord!  KLOTZ: 
Wir  sind  auf  hoher  See.  Neues  Leben.  Freiheit! 
NAUKE:  Gerettet.  Für  die  Freiheit,  für  das  neue 
Leben.  Für  die  neuen  Menschen  !  ANNA:  O,  und 
warum  musste  ein  neuer  Mensch  sein  neues  Leben 
geben?  DER  GOUVERNEUR:  Für  die  Mensch- 
heit! ANNA.  Und  wer  hat  das  Recht  dazu,  Men- 
schen für  die  Menscbheit  sterben  zu  lassen?  DER 
GOUVERNEUR:  Die  Gemeinschaft.  DER  OFFI- 
ZIER:   Lüge,  Lüge,  Lüge!  Sie  will,  dass  wir  leben! 

Ende  des  ersten  Aktes 

u 


ZWEITER  ART 

Auf  dem  Schiff 

ERSTE  SZENE 

Nauke   /   Erster   Gefangener  /    Zweiter 

Gefangener  /  Der  Offizier 
NAÜKE:  Esst,  Jungens,  esst!  Wenn  ihr  nicht  satt 
seid,  esst  weiter.  Das  ganze  Schiff  ist  für  euch  da! 
Seit  wir  unterwegs  sind,  tue  ich  auch  nichts  an- 
deres. DER  ERSTE  GEFANGENE:  F^reiheit.  Es  ist 
SO  gute  Luft;  hab  ich  schon  zwölf  Jahre  nicht  mehr 
geschluckt.  NAüKE:  Gute  Luft?  Find  ich  nicht. 
Seit  wir  vom  Meer  in  den  Fluss  gelaufen  sind, 
legt  sichs  mir  dick  über  die  Nase.  ZWEITER  GE- 
FANGENER: Kann  der  Offizier  nicht  seine  Uni- 
form abtun?  Das  bohrt  mir  die  Augen  ein,  ich 
bin  noch  nicht  ganz  in  die  Freiheit  gesprungen, 
solang  ich  die  Streifen  sehe.  NAUKE  (zum  Offi- 
ziell): Zieh  den  Rock  aus.  Zwölf  Jahre  lang  hat 
dem  Alten  die  uniform  das  Leben  verdorben. 
(Der  Offizier  zieht  den  Rock  aus.)  NAUKE:  Das 
ist  das  neue  Leben,  seht  ihr?  Wir  werden  noch 
manchem  den  Rock  ausziehen.  ERSTER  GEFAN- 
GEN ER:  Gerad  das  stand  auf  den  Blättern  gedruckt, 
deswe{jen  sie  uns  eingesperrt  haben.  Der  Staats- 
anwalt sagte  ...  NAUKE:  Ach,  lass  den  Staats- 
anwalt, es  gibt  keinen  Staatsanwalt  mehr!  Als  ich 
noch  ein  Junge  war,  hab  ich  mir  schon  hinter 
jedem  Polizisten  gesagt :  einmal  bin  ich  gross,  und 

45 


dann:  den  Rock  herunter.  Da  seht  ihr  —  wir 
haben  jetzt  die  neue  Welt,  alle  müssen  den  Rock 
ausziehen!  ZWEITER  GEFANGENER:  Genau 
das  hab  ich  in  meiner  Verteidigunfjsrede  vor  Ge- 
richt gesagft,  ich  sagte  ...  NAÜKE:  Lass  das 
Gericht,  Bruder,  es  gibt  kein  Gericht  mehr.  Wir 
reden  nicht  mehr,  wir  machen  das  wirklich.  Was? 
Das  ist  ein  Spass,  wies  jetzt  alle  Tage  geht.  Wir 
heran  an  ein  Schiff,  überrumpeln,  die  Mannschaft 
festlegen,  dem  Kapitän  die  Uniform  vom  Leibe 
und  alle  herunter  ins  Verdeck  zu  den  Gefangenen 
schmeissen!  Ich  habs  geahnt,  —  als  Schiffsjunge, 
als  Schornsteinfeger,  als  Scherenschleifer  —  hab 
ichs  schon  geahnt,  dass  es  so  kommen  musste.  — 
Offizier,  hast  du  auch  satt  gegessen?  OFFIZIER: 
Bin  nicht  hungrig.  Ich  esse,  wenn  wir  anlegen. 
NAÜKE:  Hnngre,  Bruder  Mörder,  hungre  ruhig, 
hier  kann  jeder  essen  und  hungern,  wie  er  will. 
Das  ist  die  Freiheit,  seht  ihr ! 

ERSTER  GEFANGENER:  Wenn  wir  anlegen, 
dann  adieu  ihr  da  drüben,  das  alte  Land  hat  mich 
geschmeckt.  NAüKE:  Wie,  du  willst  fort?!  Das 
gibts  nicht,  Kamerad!  ZWEITER  GEFANGENER: 
Was,  ihr  haltet  uns  fest?  NAÜKE:  Festhalten? 
Aber  Bruder,  wo  steckt  ihr?  Jetzt  beginnt  es  doch 
erst!  Das  Schiff  legt  an  jeder  Stadt  an,  wir  heraus, 
und  unter  die  Leute.  In  jeder  Stadt!  Wir  legen 
bei  jeder  Stadt  am  FIuss  an.  Machen  Kameraden, 
die  mit  uns  kommen!  OFFIZIER:  Aber  dann? 
ERSTER  UND  ZWEITER  GEFANGENER:  Und 
was  sollen  die  tun?  NAUKE:  Was  die  tun  sollen? 
Brüder,  Jungens,  —  was  die  tun  sollen?  Mit  uns 

46 


kommen,  den  Offizieren  die  Röcke  herunterreissen, 
den  Polizisten  den  eigenen  Säbel  zwischen  die 
Beine  halten,  die  Staatsanwälte  ins  Loch  sperren, 
und  mit  uns  kommen,  mit  uns  kommen!  Von  einer 
Stadt  in  die  andere.  Hier  auf  dem  breiten  P'luss, 
auf  dem  Meer,  den  Schiffen  die  Ladung  abnehmen, 
die  feindliche  Mannschaft  ins  Zwischendeck  sper- 
ren, in  den  Städten  die  Vorratshallen  aufmachen. 
Jeder  nimmt  sich,  was  er  braucht.  Die  Freiheit, 
Freunde!  Was  fragt  ihr?  Seid  ihr  denn  Männer? 
Meine  Mutter  hätt  euch  das  schon  sagen  können: 
die  rein  zum  Bäcker  gelangt,  und  mit  dem  Brot 
unterm  Rock  raus,  dem  Schutzmann  ein  Bein  ge- 
stellt, dasser  über  seinen  eigenen  Helm  stolpert, — 
und  das  war  doch  nur  ne  arme,  gejagte  Matrosen- 
hure! ERSTER  GEFANGEiVER:  Und  dann  an  die 
Banken,  und  den  Zins  beseitigt!  Ich  hab  zwanzig 
Jahre  lang  daran  gerechnet.  Das  ist  das  Wichtigste! 
NäüKE:  Zins?  Geld?  Ihr  armen  Kerle  habt  im 
Zuchthaus  die  Zeit  verträumt.  —  Das  wissen  wir 
heute  ganz  genau :  Von  Geld  ist  überhaupt  nicht 
mehr  die  Rede.  Jeder  nimmt,  was  ihm  vor  der 
Hand  liegt:  Den  Topf,  das  Haus,  das  Schiffstau. 
Die  Erde  ist  gross  genug  für  alle  Hände.  Wir 
tauschen  alles,  zuletzt  uns  selbst.  Freiheit!  Freiheit! 
Nieder  mit  der  Gesellschaft!  DER  OFFIZIER: 
Wann  legen  wir  an?  Wann  kommt  die  erste  Stadt? 
Wann?  O,  die  Mörderaus  der  Welt  schaffen!  Nieder 
mit  der  Gesellschaft!  ERSTER  UND  ZWEITER 
GEFANGENER  :  Nieder  mit  der  Gesellschaft! 
DIE  SGHIFFSGEFANGENEN  (unten  im  Zwütchen- 
deck  noch  unsichtbar):  Lasst  uns  heraus!   Leben! 

47 


Wir  wollen  leben!  DER  OFFIZIER:  Was  ist  das? 
Sie  schreien.  NAUKE:  Die  {gefangene  Mannschaft, 
die  wir  im  Zwischendeck  haben.  Die  sind  sicher. 
Die  stören  uns  nicht  mehr.  DRR  OFFIZIER:  Ist 
jemand  von  uns  bei  ihnen?  NAÜKE:  Die  sind 
eingesperrt  —  das  sind  doch  Feinde!  Künunere 
dich  nicht  um  die,  wir  haben  Wichtigeres  zu  tun  ! 
—  Kamerad,  du  machst  es  an  Land  bei  den  Sol- 
daten. Solche,  wie  du,  gibt  es  noch  mehr.  Einer 
muss  nur  das  Beispiel  geben.  OFFIZIER:  Und 
die  Frauen?  NAUKE:  Die  Frauen  machens  auf 
die  andere  Art.  Das  weiss  ich  von  meiner  Mutter, 
dass  ein  Weib  die  halbe  Stadt  umlegen  kann  Die 
Frauen  gehen  zu  den  Lauen,  denen,  die  uns  Gutes 
wünschen,  und  sich  nie  getrauen  werden,  mit  an- 
zupacken. Dann  sag  ich  euch,  ehe  so  ein  Ta{j  um 
ist,  hat  bald  alles  den  Kopf  erhoben,  imd  es  kommt 
ein  Wutgebrüll  wie  von  den  Löwen  in  den  Käfi- 
gen. Auf  einmal,  seht  ihr,  sind  wir  da.  Und  die 
neuen  Kameraden  haben  schon  die  Fäusie  den 
andern  vors  Gesicht  gehalten,  ehe  sies  selbst  noch 
wissen!  OFFIZIER:  Die  Frauen  am  Schiff! 
ERSTER  UND  ZWEITER  GEFANGENER:  Die 
Frauen!  Die  Frauen,  kommt  herauf! 

ZWEITE  SZENE 
Vorige  /  Anna 

ANNA  (kommt):  Was  wollt  ihr?  Was  ruft  ihr  mich? 
Was  schreit  ihr  hinein  in  mein  neues  Leben?  Ich 
war  auf  dem  Meer,  ich  habe  die  Sterne  gesehen. 
Das  Licht  sprudelte  über  mich.  Um  mich  war 

48 


Licht.  So  streck  ich  meine  beiden  Arme  hoch  im 
Licht.  So  umarme  ich  euch,  meine  Lieben,  im 
Licht.  Ihr  seid  die  vollen  milden  Strahlen,  und  ich 
bin  in  den  Strahlen.  Wir  haben  die  Finsternis  zer- 
rissen. Wir  haben dieSchatten  zerschlagen.  N  A  ü  K  E : 
Zerschlagene  Köpfe  hatten  sie  freihch,  die  Schat- 
ten. Wir  haben  sie  unten  ins  Zwischendeck  ge- 
sperrt. Obs  da  wohl  noch  finstrer  ist,  als  sonst? 
Und  die  Ladung,  die  wir  ihnen  abgenommen  haben 
—  alles  Schattenware.  Und  der  Wein,  das  Bier,  der 
Rum  und  der  Proviant,  den  wir  von  ihnen  her- 
übergeschafFt  haben  —  alles  Finsternis.  —  Esst, 
esst,  Jungens:  Nieder  mit  der  Finsternis!  ANNA: 
Nieder  mit  der  Finsternis!  Wir  sind  vom  Licht. 
Ich  bin  nur  noch  Licht.  Du  bist  Licht.  Ich  dreh 
mich  und  schau  dich:  du  bist  Licht.  Ich  spiüng 
unter  euch,  wir  sind  eine  grosse,  breite,  quellende 
Strahlenflamme.  ERSTER  GEFANGENER: 
Flamme,  Flamme!  Die  Flamme  über  die  Länder! 
Feuersbrünste  an  die  Bankhäuser,  Feuer  an  die 
Papiere,  die  Scheine;  der  Zins  der  ganzen  Welt 
ist  Asche!  ZWEITER  GEFANGENER:  Ein  Schutt- 
haufen, klirrende  Kehrichtreste  das  Geld!  Die 
Menschen  geben  sich  die  Hände.  Ich  habs  gewusst. 
Die  Welt  wird  unschuldig. 

OFFIZIER:  Unschuldig,  unschuldig!  Kann  man 
Unschuldige  töten !  Ich  knie  vor  euch  nieder,  ich 
umfasse  euere  Füsse.  Ich  bin  frei  geworden.  Weib, 
hier  halte  ich  mit  beiden  Händen  deine  Füsse,  dein 
erschossenes  Kind  lebt  in  mir!  Und  ich  lebe  in  dei- 
nem Strahlenbett,  dein  Gesicht  ist  der  Lichtbrunnen, 
deine  Arme  sind  die  zuckenden  Lichtflüsse,  um- 

4    Rubiner,  Die  Gewaltiosen  49 


strahle  mich  mit  deinen  Lichthaaren !  Ich  bin  die 
Schuld.  Ich  komme  aus  dem  Kasernendunkel.  Ich 
hin  Mörder,  ich  habe  gemordet,  ich  müsste  stei'- 
ben:  nun  lebe  ich  neu  im  Lichtbrand.  Ich  knie  vor 
dir  auf  der  Erde,  ich  schlage  vor  dir  auf  die 
Planken  nieder,  wehrlos,  du  weisst  alles  von  mir. 
Leuchte  zu  mir,  ich  lebe  neu  für  die  Freiheit. 
ANNA:  Freiheit !  Wie  diese  Wirbel  im  Kreis  aus  mir 
hoch  strömen !  O,  dass  ich  noch  hierauf  meinen  Füs- 
sen stehe !  Merkt  ihr  nicht,  rasend  aus  mir,  rund  her- 
um um  die  Welt  die  mächtigen  Drehungen  toben, 
die  drohenden  blitzenden  Kreise,  Was  steht  ihr  da? 
Ihr  ruft  mich.  Merkt  ihr  nicht,  wie  der  Raum  brau- 
send hinter  uns  rauscht?  Wo  seid  ihr?  Warum 
bin  ich  allein?  Warum  fliegt  ihr  nicht  mit  mir? 
Habt  ihr  schon  vergessen,  wie  wir  auf  die  fremden 
Schiffe  stürzten,  wie  wir  die  zitternden  Schiffs- 
knechte knebelten  —  und  wie  Wenige  waren  wir: 
Nur,  weil  wir  Freie  sind!  —  Warum  schlaft  ihr? 
Warum  wache  allein  ich?  Auf!  Herauf  zu  uns! 
Löst  euere  Glieder!  Vergesst  eure  dunkle  Nacht 
von  Gestern! 


DRITTE  SZENE 
Vorige  /  Der  Mann  /  Die  Frau 
Der  Mann  und  die  Frau  kommen 

DER  MANN:  Gestern,  gestern:  schwere  Steine, 
Schüsse,  Militärkolonnen,  Mauern  stürzen.  Heute 
zischt  die  Luft  um  mich,  ich  rühre  keinen  Men- 
schen an,  ich  ströme  für  euch  dahin,  wie  das  Was- 

5o 


ser  unterm  Kiel,  Ich  bin  für  euch  da,  meine  Brü- 
der, ich  will  für  euch  arbeiten,  ich  wasche  euch 
das  Verdeck,  ich  koche  euer  Essen,  ich  trag  euch 
in  die  Hängematte,  wenn  ihr  krank  seid.  O,  wie 
klein  ist  das  alles,  was  ich  für  euch  tue,  meine 
Blutstropfen  sind  für  euch  da.  NAUKE:  Ein 
einziges  Gläschen  Magentropfen  war  mir  lieber  als 
die  grossmütigst  vergossenen  Blutstropfen.  Wer 
für  uns  da  ist,  der  geniesst  seine  Freiheit  und  hilft 
uns  bei  unserm  Spass.  Ich  bin  dafür,  dass  heute 
deine  schöne  Frau  bei  mir  in  der  Kajüte  bleibt. 
Hallo,  Bruder,  haperts  da?  Deine  Frau  bei  mir! 
DIE  FRAU:  Ich  gehör  euch !  Ich  flicke  euere  Fetzen, 
ich  kämme  euch  die  Läuse  aus  den  Haaren,  ich 
singe  euch  eure  müssigen  Minuten  vor.  Was  ist 
das  alles?  Seid  ihr  denn  schon  selig?  Wir  sind  noch 
weit  von  den  Menschen!  Um  uns  muss  die  ganze 
Welt  brennen,  die  Vergangenheit  muss  wie  Mu- 
nitionsstädte zum  Himmel  explodieren,  wir  müssen 
über  die  Erde  rasen  und  die  Menschen  befreien,  — 
und  unser  Leben  ist  so  kurz!  NAüKE:  Freiheit: 
davon  müssen  wir  was  haben.  Das  Leben  ist  kurz; 
seit  ich  aus  meiner  Mutter  gekrochen  bin,  weiss 
ich,  dass  es  mit  Essen  und  Trinken  vorbeigeht; 
ein  paar  mal  einem  Weib  um  den  Hals  gefallen, 
und  eines  Tags  fliegst  du  vom  Schiff  ins  Wasser 
mit  einem  Schlag  auf  den  Hinterkopf  und  bist  tot. 
Die  anderen  Menschen  sollens  ebenso  gut  haben 
wie  wir,  aber  wir  müssen  das  fette  Beispiel  geben. 
Die  Flaschen  herauf,  sag  ich,  die  Flaschen,  und 
die  Essnäpfe  nicht  vergessen!  Einen  Schinken  hab 
ich  unter  der  neuen  Ladung  entdeckt,  einen  Schin- 

4'  5l 


ken,  saftig  wie  Weiberbrust.  Wer  nicht  für  das 
grosse  Freiheitsessen  und  -Trinken  ist,  der  ist  ein 
Verräter!  OFFIZIER  fzu  Anna):  Mach  mit  mir, 
was  du  willst.  Ich  bin  die  Planke  für  deinen  Fuss. 
Für  alle  Menschen  werd  ich  da  sein,  ewig  in  dir! 
NAüKE:  Ihr  da  unten,  Flaschen  herauf,  den 
Schinken  herauf! 


VIERTE  SZENE 
Vorige  /  Erster  Wächter  /  Zweiter  Wächter 

(Erster  wnrf  zweiter  Wächter  kommen  beladen 
hei' au  f.) 

ERSTER  GEFANGENER:  Zwanzig  Jahre  keine 
Weiberhand  mehr  gehalten.  Wo  ist  meine  Frau 
geblieben?  Meine  Schwester  ist  tot.  Ich  stand  alle 
Tage  zwölf  Stunden  an  der  Maschine.  Ich  habe  für 
euch  gedacht!  Sind  wir  endlich  da?  Ich  will  ver- 
gessen, was  war,  lasse  mir  die  Sonne  in  die  Augen 
brennen.  Dieser  Geruch  vom  Wasser  her,  ich  kenne 
das  nicht.  Sind  wir  frei?  Umschlingt  mich,  presst 
eure  Arme  um  mich,  und  dann  hinein  in  alle  Bör- 
sensäle der  Welt,  die  Banken  gesprengt,  unsere 
Brüder  befreit !  —  springt  mit  mir  unter  die  Geld- 
herren, jedes  Wort  erstickt,  das  noch  mit  Geld- 
dienst über  die  Telegraphendrähte  läuft!  ZWEI- 
TER GEFANGENER:  Ich  wusste  es  immer,  es 
gibt  keinen  Besitz!  Wir  gehören  uns  alle.  Ich  bin 
schwach.  Ich  habe  nie  in  der  Freude  gelebt,  seit 
meiner  Jugend  hab  ich  Pläne  entworfen.  Aber  ich 

5a 


weiss  heute,  es  gibt  eine  Freude,  vielleicht  kann 
ich  allen  helfen.  Wollt  ihr,  dass  ich  für  euch  tanze? 
Ich  bin  alt.  Meine  Knochen  sind  weich  vom  Ge- 
fängnis. Soll  ich  unter  euch  springen,  bis  wir  den 
Himmel  herunterholen?  Dass  ich  frei  bin!  Nun 
müssen  alle  frei  sein.  ERSTER  WÄCHTER:  Trin- 
ken, Brüder,  hier!  O  ich  weiss  es,  wie  man  die 
Gefangenen  herausholt,  vielleicht  hab  ich  darum 
mein  Leben  lang  die  Mauern  um  mich  gehabt.  Zu- 
sammen mit  euch  brennen  wir  wie  ein  Blasfeuer 
die  Zuchthäuser  nieder,  unsere  Brüder  sind  frei! 
ERSTER  GEFANGENER  (zum  ersten  Wächter) 
Ist  das  nicht  deine  Tochter,  die  da  am  Schiffsrand 
steht,  als  wollt  sie  in  die  Sonne  fliegen?  ERSTER 
WÄCHTER:  Tochter?  ich  fühls  kaum  mehr.  Sie 
geht  so  hoch  und  gerade,  ist  etwas  Feines  gewor- 
den, nicht  mehr  zu  erkennen  von  früher;  meine 
Tochter  war  anders.  Die  sieht  keinen  Menschen 
mehr,  schaut  durch  mich  hindurch,  dass  ich  mich 
oft  vor  Schreck  umdrehe  und  hinter  mich  blicke. 
Sie  hört  mich  schon  lange  nicht  mehr.  Aber  ich 
hab  ihr  nichts  zu  sagen  seit  meiner  eigenen  Flucht! 
NAUKE  (erhebt  sich  halb,  die  Hand  hohl  vor  den 
AugenJ:  Ein  Schiff!  Ein  Schiff  an  der  Flussmün- 
dung, dort  hinten,  in  der  Ferne.  DER  MANN: 
Wir  sind  nicht  mehr  allein  auf  dem  Wasser!  DER 
OFFIZIER:  Ein  Schiff  (^sw  Anna)  O  sprich,  eh  ich 
mit  meinen  Küssen  zu  dir  falle,  sag  es  mir.  Hinauf 
auf  das  Schiff.  Wünsch  es  von  mir,  verlang  das! 
Wir  springen  von  einem  Verdeck  aufs  andere.  Nie- 
der mit  der  Besatzung,  wir  holen  an  Bord,  was  wir 
finden ! 

63 


FÜNFTE  SZENE 
Vorige  /  Der  Gouverneur 

Der  Gouverneur  fri^at/y,  NAÜKE:  Die  Waffen! 
Auf  das  Schiff!  Wir  rammen  ein  Leck,  und  dann 
in  der  Verwirrung  hinüber,  die  Mannschaft  ge- 
bunden, und  jeden  niedergemacht,  der  gegen  uns 
ist!  DER  GOUVERNEUR:  Nein!  NAÜKE:  Nieder 
mit  dem  Sklavenschiff.  Auf!  Gestern  hiess  es  noch 
Raub,  heute  heisst  es  Freiheit!  DER  GOUVER- 
NEUR: Nein!  OFFIZIER  fzum  Gouverneur): 
Was  willst  du  ? 

SECHSTE  SZENE 
Vorige  /  Klotz 

KLOTZ  (tritt  auf^  eilends):  Das  Schiff,  das  Schiff! 
NAÜKE:  Wir  sausen  mit  allen  Kesseln  darauf  zu! 
DER  GOUVERNEUR:  Nein,  nein,  sag  ich  euch! 
Das  ist  nicht  die  Freiheit!  Das  ist  das  Tier.  Das 
ist  der  Absturz!  Die  alte  Welt  der  Feinde  stirbt 
schwarz  zerfressen  an  der  Pest.  —  Und  diese  da, 
die  Kameraden,  rasen  nach  Besitz?  KLOTZ:  Lass 
sie.  Sie  folgen  ihrem  Zwang.  DER  GOUVERNEUR: 
Nein!  Ich  darf  sie  nicht  lassen.  Ich  bin  erweckt, 
ich  kann  nicht  mehr  zurück.  Ich  kann  die  Menschen 
nie  mehr  im  Dumpfen  lassen.  Weisst  du  es  noch 
nicht?  Rings  um  uns  tobt  Seuche.  Drüben  fressen 
Besitz  und  Seuche  brüderlich  vereint  an  den 
Feinden.  Aber  hier  unsere  Brüder  —  nur  die 
Reinheit  kann  sie  noch  retten!  KLOTZ:  Sieh,  die 
Armen  hier,  wie  zum  ersten  Male  aus  ihnen  die 

54 


Freiheit  springt!  DER  GOUVERNEUR:  Ich  sehe 
graue  BUtze  unter  ihnen.  Die  Verwirrung  steigt 
wie  Nebel  um  unser  Schiff.  Sie  fallen  in  ihre  Tier- 
heit  zurück.  Sie  schleudern  sich  zurück  ins  blinde 
Vergessen.  —  Kameraden,  heraus  aus  der  Be- 
fleckung. Unsere  Kraft  ist  der  reine  Wille  unseres 
Freiheitschiffes,  oder  die  Seuche  von  drüben  stürzt 
sich  über  euch!  NAUKE:  W^as  willst  du,  Kame- 
rad? Komm  zu  uns,  küss  mit  uns!  In  einer  Stunde 
springen  wir  drüben  dem  Schiff  auf  den  Leib! 
Küsst  mich,  Frauen,  küsst  euch  !  Das  ist  ein  Leben, 
ich  habs  gewusst,  dass  so  ein  Leben  kommen  wird. 
Musik!  —  ich  hörte  Musik  schon  im  Mutterleib! 
Musik!  O  Freiheit! 

KLOTZ  fzum  Gouverneur):  Dort,  dort  am  Ufer 
—  o  sieh!  sieh  die  dunklen  Klumpen!  Sind  das 
Menschen?  DER  MANN;  Tote!  Die  Seuche?  DER 
GOUVERNEUR:  Tote!  Die  Pest  frass  sie.  Ich  sagt 
es  euch!  DER  MANN:  Die  Pest — wir  fahren  durch 
die  Pest!  DER  GOUVERNEUR:  Die  Pest  um  uns. 
Die  Pest  auf  dem  Feindesschiff.  Und  in  unsern 
Brüdern:  Das  Tier!  (zu  den  anda-nj:  Nun  verlass 
mich  nicht,  Menschenkraft  in  mir! 
KLOTZ:  Das  Schiff,  es  kommt  auf  uns  zu!  ERSTER 
WÄCHTER:  Mir  ist  unheimlich;  ich  seh,  wie  sie 
drüben  Flaggen  ziehen  und  Kanonen  richten! 
ZWEITER  WÄCHTER:  Wir  verfolgen  sie  nicht 
mehr,  sie  jagen  auf  uns!  OFFIZIER:  Sie  verfolgen 
uns!  NAUKE;  Uns!  ANNA:  Ich  ergebe  mich 
nicht!  DER  MANN:  Sie  werden  sich  rächen.  DIE 
FRAU:  Sie  verlangen  unsere  Auslieferung  und 
lassen  euch  dann  frei.  Wollt  Ihr  uns  verraten? 

55 


DER  GOUVERNEUR:  Ihr  dürft  nicht  verzweifeln. 
Seid  ihr  nicht  frei?  NAUKE:  Scherze  nicht  mit 
uns!  ERSTER  GEFANGENER:  Sprich,  ich  ver- 
stehe dich.  Schnell.  Ich  bin  alt.  Mein  Leben  ist 
bilhg.  ZWEITER  GEFANGENER:  Was  sollen 
wir  tun?  DER  GOUVERNEUR:  Seid  ihr  nicht 
die  Führer?  Rollt  nicht  die  Zukunft  aus  unseren 
Händen  als  neue  Welt?  Wie  dürft  ihr  das  ver- 
gessen? NAUKE:  Führer!  Ich  bin  Führer!  DER 
MANN:  Gibt  es  Führer?  Gibt  es  noch  Führer  in 
der  letzten  Not  der  Menschen?  OFFIZIER:  Sie 
verfolgen  uns!  Wie  retten  wir  uns?  KLOTZ:  Gibt 
es  Führer?  fragst  du  —  vorm  Tode  sagst  du  das? 
D  E  R  G  O  ü  V  E  R  N  E  U  R :  Ihr  seid  frei !  Vorbild  seid 
ihr  für  die  Menschen!  Unser  Schiff  fährt  durch 
den  schimmernden  Himmel  zu  den  Menschen,  sie 
aufzurichten,  ihr  macht  sie  zu  Brüdern,  ihr  erinnert 
sie  an  ihre  Heiligkeit.  Aus  Euch  wird  die  Mensch- 
heit strömen,  ihr  pflanzt  das  Morgenreich  in  die 
Länder.  Und  ihr  habt  Angst?  Drüben  folgt  euch 
nur  das  Tier,  die  böse  Dunkelheit.  Ihr  müsst  nur 
wollen,  und  sie  ist  dahin!  OFFIZIER:  Es  ist  zu 
spät!  Sie  ziehen  die  Feindessignale.  Sie  richten 
ihre  Riesengeschütze !  DER  GOUVERNEUR : Wir 
müssen  nur -wollen! 

ANNA:  Nimm  meinen  Willen!  Sag  was  ich  soll! 
Hauch  ihn  unter  die  Brüder,  wenn  er  euch  retten 
kann.  DIE  FRAU:  Nimm  mein  Leben.  (Zu Anna) 
Nimm  da  es,  Schwester!  Hier  lieg  ich  zu  deinen 
Füssen,  dich  stärker  zu  machen.  OFFIZIER:  Wollt 
ihr  mich?  Werft  mich  hinüber,  sie  hängen  mich, 
oder  sie  schiessen  mich  zusammen,  oder  sie  hacken 

56 


mich  in  Stücke,  vielleicht  kann  jeder  blutende 
Fetzen  von  meinem  Fleisch  einen  von  euch  retten ! 
ERSTER  GEFANGENER:  Ich  bin  es,  sie  wollen 
mich  holen.  Noch  einen  Zug  von  dieser  Luft  atmen, 
und  sie  können  wieder  das  Gefängnis  über  meinen 
Schädel  pressen.  Ruft  herüber,  das  ich  für  euch 
gehe.  ZWEITER  GEFANGENER:  Nein,  ich!  Ich 
bin  älter  als  ihr  alle!  Ich  habe  mehr  gemacht  als 
ihr,  ich  war  gefährlicher  als  ihr.  ERSTER  WÄCH- 
TER: Ich  weiss,  wie  mans  macht!  Schiesst  mich 
nieder,  ruft,  dass  ich  der  Rädelsführer  war,  einem 
alten  Beamten  glauben  sie,  auch  wenn  er  tot  ist. 
Wozu  ist  mein  Leben  gut?  Ich  habe  die  Freiheit 
gespürt,  nun  kann  ich  sterben.  ZWEITER  WÄCH- 
TER: Ich  bin  noch  jung,  mein  ganzes  Leben  ist 
noch  da,  meine  Freiheit  aufgeben:  das  hat  viel 
grösseren  Wert,  als  ihr  alle ;  nehmt  mich !  N  A  U  K  E : 
Mich!  Mich!  Ich  —  ein  Führer!  Der  Kamerad 
hats  gesagt!  Ihr  liefert  einen  wirklichen  Führer 
aus.  Das  ist  ein  Braten  für  die,  knusprig,  voll  ge- 
gessen und  getrunken,  frisch,  mit  festen  Sehnen! 
Liebe  Brüder  und  Schwestern :  den  letzten  Schluck, 
un  d  dann  —  hopp !  K  L  O  T  Z :  Kann  es  einer  allein  ? 
Ich  war  der  Aufstand.  DER  MANN  :  Ich  war  der 
Wille!  Mit  mir  ersticken  sie  den  Geist,  und  ihr 
andern  schlüpft  ins  Leben  zurück.  OFFIZIER 
O  wie  spät  ist  es,  was  zögern  wir!  Ein  Hauch  noch, 
und  wir  sind  alle  verloren ! 

DIE  SCHIFFSGEFANGENEN  (unsichtbar,  un- 
ten): Heraus !  Leben !  OFFIZIER:  Die  Gefangenen! 
—  Nun  alle  Kraft  in  uns  zu  Hilfe,  sonst  werden 
wir  wie  Tiere  niedergemacht!     DER  GOUVER- 

57 


NEÜR:  Wir  sind  nicht  verloren.  Wir  sind  noch 
frei.  Glaubt  mit  mir!  Wille,  Wille,  brenne  durch 
uns,  Wille,  schiesse  aus  unseren  Händen,  kehr 
um  in  unserm  Mund,  fahre  aus  unseren  Augen! 
Alle  wollen!  Wir  stehen  in  starrer  Mauer  still, 
wir  tauchen  unter,  wir  verschwinden  aus  dem 
Leben,  wir  fliegen  lautlos  über  uns  herauf.  Wir 
wollen!  Auf!  Aus  uns  steigt  es  herauf,  heraus  aus 
uns  tritt  unser  Mensch,  hinüber  durch  den  Raum, 
es  gibt  keine  Grenzen,  furchtbar  für  die  Gewalt! 
Mensch,  herauf!  Hervor  aus  uns  allen,  Wille.  Die 
Gewalt  prallt  zu  Staub!  DER  MANN:  Wille! 
DER  GOUVERNEUR:  Brüder,  Mut,  wir  schreiten 
hinaus  aus  unserem  Leib.  Unser  Wille  schwingt 
aus  uns  über  den  Raum  hin.  Wille,  stoss  in  die 
Feinde!  KLOTZ:  Freiheit!  DER  GOUVERNEUR  : 
Freiheit  stösst  aus  uns!  Jetzt  wir  alle:  unser  Wille 
heiss  wie  ein  weisser  Strahl  ganz  auf  sie !  ANNA: 
Wir  Menschen  gegen  die  Knechtschaft !  OFFIZIER. 
Nieder  die  Gewalt!  DIE  FRAU:  Gemeinschaft 
gegen  die  Gewalt!  ALLE:  Gemeinschaft!  DER 
GOUVERNEUR:  Menschen,  unsere  Gemeinschaft 
zerstört  ihre  Panzermacht!  —  Unsere  Kraft!  Sie 
wenden!  —  Da  —  sie  fliehen!    ALLE:  Freiheit! 

SIEBENTE  SZENE 
Vorige 

OFFIZIER:  Sie  fliehen!  Freiheit  siegt!  DER  GOU- 
VERNEUR: Verwirrung  unter  die  Gewalt!  Ge- 
rettet! Die  Gewalt  sprang  ab  vor  Menschen  willen. 
Seht,  wie  das  Schiff  klein  dort  unten  schwindet! 

68 


• —  Ihr,  Sternbrüder,  seid  ihr  nun  Eurer  Kraft  ge- 
wiss? Das  neue  Leben  hegt  vor  uns!  ALLE:  Ge- 
rettet —  sie  fliehen!  NAUKE:  Gerettet!  Ich  hab 
uns  gerettet.  Werd's  mir  merken.  Allein  durch 
meinen  Willen.  Man  steht  still,  tut  gar  nichts,  bläst 
durch  die  Lippen  —  und  hast  du  nicht  gesehen, 
ist  der  Andere  auf  und  davon !  In  die  feinsten  Re- 
staurants geh  ich  so!  Zahlen?  —  ist  nicht  mehr! 
Kellner,  eine  gute  Zigarre  und  eine  Flasche  Sekt : 
Mein  Wille  —  pfft!  Weg  mit  dir,  Dummkopf! 
Mein  Wille!  Freiheit!  KLOTZ:  Wir  sind  frei. 
Ewig  frei.  Wir  haben  uns  gerettet.  Nun  müssen 
wir  die  Menschheit  retten!  ERSTER  WÄCHTER; 
An  Land!  Ich  komme  auf  die  neue  Erde.  Habe 
mich  mein  Leben  lang  geduckt,  bin  gekrochen, 
hab  die  Gefangenen  gepeinigt.  Wir  legen  an.  Es 
gibt  keine  Vorgesetzten  mehr,  nur  Brüder.  OFFI- 
ZIER: Ich  habe  befohlen,  habe  die  Soldaten  ge- 
quält, ich  war  dumpf,  hab  Befehlen  gehorcht,  ich 
hab  gemordet.  Jeder  Blutstropfen  zerrt  an  mir,  zu 
den  Menschen  herüber  zu  springen  und  zu  helfen. 
An  Land!  ANNA:  Ich  strich  an  den  Zellen  des 
Gefängnisses  vorbei,  und  jedes  Stöhnen  fand  mich 
taub.  Aber  nun  weiss  ich,  was  das  Licht  ist,  und 
ich  will,  dass  die  Reinheit  wie  ein  Feuer  durch  die 
Menschen  brennt !  ALLE  (ausser  Klotz,  dem  Mann 
unddem  Gouverneu?'):  Freiheit,  HofiFnung.  An  Land. 
Die  Stadt!  NAUKE:  Ans  Ufer.  Anlegen!  DER 
GOUVERNEUR:  Nein!  Wir  können  nicht  anlegen! 
NAUKE:  Wir  können  alles  was  wir  wollen!  An 
Land! 
DER  GOUVERNEUR,  DER  MANN,  KLOTZ:   Un- 

59 


möglich!  DIE  FRAU.  Unmöglich?  KLOTZ:  Wir 
können  nicht  an  Land.  Merkt  ihr  nicht  längst,  wo 
wir  sind?  Drüben  am  Uter  ist  kein  lebendes  Wesen 
mehr.  Tot,  tot!  Die  Städte  sind  tot,  verkommen, 
ausgestorben!  DER  MANN:  Spürt,  wo  ihr  seid, 
Mut,  Kameraden.  Aus  dem  Wasser  um  uns  steigt 
Tod:  Das  ist  der  Untergang  für  uns,  es  dringt  in 
alle  Poren,  wer  kann  noch  atmen,  ohne  zu  wan- 
ken!  DER  GOUVERNEUR:  Brüder,  Mut!  Um  uns 
ist  Tod !  Das  Land  ist  tot !  Wir  fahren  durch  den 
Tod.  Auf  dem  Wasser  herrscht  die  Pest!  NAÜKE, 
ERSTER  GEFANGENER,  ZWEITER  GEFANGE- 
NER, ERSTER  WÄCHTER,  OFFIZIER:  Die  Pest! 
Die  Pest  um  uns!  Hilfe!  Hilfe!  DER  GOUVER- 
NEUR: Uns  hilft  niemand,  wir  sind  allein!  OFFI- 
ZIER: Zu  Hilfe :  Die  Pest !  N  A  U  K  E :  Teufel  noch 
einmal,  Zins  und  Kapital,  die  Pest!  Und  der  Rum 
ist  ausgetrunken.  In  keiner  Flasche  mehr  ein 
Tropfen !  DERGOÜVERNEUR:  Brüder,  wir  dür- 
fen uns  nicht  verlieren.  Unser  Wille  muss  stärker 
sein  als  Todesgefahr.  Jede  Welle,  durch  die  das 
Schiff  schlägt,  spritzt  die  Seuche  um  uns  hoch. 
Aus  den  Turmspitzen  der  toten  Städte  drüben  fliegt 
die  Seuche  zu  uns  herüber.  Jede  Mauer  will  uns 
zu  klebrigem  Moder  machen.  Um  uns  lebt  nichts 
mehr,  Seuchendunst  steigt  um  uns,  das  Wasser  ist 
zitterndes  Grün.  Wir  sind  Menschen.  Nur  die  Zu- 
kunft hält  uns  stark.  Wir  müssen  leben  für  die 
Freiheit.  Glaubt  eurem  Willen;  er  rettet  uns  aus 
Einsamkeit  der  Todeshölle! 

OFFIZIER:  Verloren,  verloren!  Mitten  in  der 
Seuche.  Ich  hasse  mich,  dass  ich  mich  je  von  Wor- 

60 


ten  hinreissen  liess.  Ich  hasse  euch!  ERSTER 
GEFANGENER:  Du  hassest  mich,  du  Lump? 
Lieber  zwanzig  Jahre  im  Kettenkerker,  als  in  der 
Seuche  verrecken.  Betrüger!  ZWEITER  GEFAN- 
GENER fzutn  ersten  Gefangenen) :  Ich  hab  mir  den 
Kopf  zermartert  für  die  Menschheit,  du  hast  höh- 
nisch dazu  gemäkelt,  verfluchter  Zinsenhans!  Ich, 
ich  will  nicht  zurück  in  Gefängnis,  geh  allein,  du 
Schwindler.  DER  GOUVERNEUR:  Kameraden, 
glaubt  an  euer  Leben.  Wir  leben,  wenn  wh'  in 
diesem  Todesrasen  fest  aneinander  glauben!  ER- 
STER WÄCHTER:  Was  hab  ich  von  diesem  Tod? 
Meine  Tochter  —  eine  Fremde!  Mein  Zimmer 
verlassen,  meine  Frau,  mein  Ansehen,  mein  Aus- 
kommen —  für  eure  Freiheit!  Ich  will  mein  Vogel- 
bauer zurück  haben,  gebt  mir  mein  Sofa  wieder! 
KLOTZ:  Ist  alles  vorbei?  Zu  spät !  Im  Stich  gelassen 
von  allen!  Die  Kameraden  fallen  ab  wie  Leichen- 
tücher! Hass!  Wie  allein,  wie  allein!  Hasst  nicht! 
Hasst  nicht,  ihr  dürft  nicht  hassen!  Erinnert  euch, 
wer  ihr  seid !  Von  uns  bleibt  nichts  in  der  Welt, 
wenn  ihr  noch  hasst!  ANNA:  Sterben!  Habeich 
Liebe  gehabt?  Wo  bleiben  die  Menschen?  Tod, 
und  nie  die  Menschenfreiheit  gespürt!  An  Land, 
wenn  wir  an  Land  tot  hinfallen,  ist's  gleich,  so 
haben  wir  doch  das  ferne  Land  berührt!  DER 
MANN:  An  der  Seuche  vermodern,  wo  es  zur  Frei- 
heit ging!  Noch  ehe  die  Menschheit  aus  der  Erde 
aufstehen  konnte,  werden  meine  Arme  und  Beine 
blau  geschwollen  abfallen,  mein  Kopf  wird  grinsen, 
dieses  Gehirn  soll  stinkendschwarzer  Teig  sein? 
Ich  kann  nicht  allein  sterben.  Wenn  ich  sterbe, 

6l 


wer  wird  dann  noch  leben  ?  DIEFRAU:  Hilft  mir 
niemand?  Ich  will  noch  nicht  sterben!  Ich  habe 
schwache  Menschen  verlassen,  ich  habe  Menschen 
Unrecht  getan  für  die  Freiheit!  Ich  kann  nicht 
sterben !  DERGOÜVERNEÜR:  Brüder,  wir  leben ! 
Ihr  seid  nicht  allein !  Wir  blicken  uns  in  die  Augen, 
und  jeder  von  uns  ist  die  ganze  Erde  bis  an  den 
Himmel !  Wir  schleudern  den  Tod  von  uns ! 
NAUKE:  Tod!  Ihr  habt  alle  den  Tod  verdient! 
Wenn  ihr  krepiert,  ich  will  der  Letzte  sein!  OFFI- 
ZIER, ERSTER  GEFANGENER,  ZWEITER  GE- 
FANGENER, ERSTER  WÄCHTER,  ZWEITER 
WÄCHTER:  Ihr  Verräter,  nieder  mit  euch  Ver- 
rätern. DER  MANN,  DIE  FRAU,  ANNA,  KLOTZ: 
Anlegen.  Leben!  An  Land!  DER  GOUVERNEUR: 
Wollt  ihr  meinen  Tod?  Ich  geh  ihn,  er  nützt  euch 
nichts.  Wirmüssen  unsern  Weg  fahren,  wir  müssen ! 
Wo  ihr  hintretet,  ist  die  Pest !  ALLE  f ausser  dem 
GouverneurJ:  Zu  Hilfe!  Die  Pest!  (Sie  sind  im  Be~ 
griß  übereinander  herzujallen.j 

ACHTE  SZENE 
Vorige  /  Die  Schiffsgefangenen 

DIE  SCHIFFSGEFANGENEN  (unten.nochunsicht- 
barj:  Die  Pest!  Zu  Hilfe!  NAUKE:  Die  Gefange- 
nen !  Sie  schreien  unten.  Das  ist  das  Ende!  DIE 
GEFANGENEN  (unten):  Lasst  uns  heraus!  Die 
Pest!  Lasst  uns  heraus!  Wir  sprengen  die  Tür! 
OFFIZIER:  Die  Gefangenen  meutern.  Wir  sind 
ganz  verloren!  DIE  GEFANGENEN:  Lasst  uns 
heraus!  Wir  sterben!     EINE  STIMME  DER  GE- 

62 


FAJN  GENEN:  Ein  Kranker  ist  unter  uns !  NAUKE: 
Es  kommt  keiner  herauf!  Der  erste,  der  das  Ver- 
deck betritt,  muss  dran  glauben  !  DER  GOUVER- 
NEUR: Verbrechen!  O,  dass  ich  nun  eure  Ver- 
wirrung begreife;  W^elche  Schuld!  Sie  sind  Men- 
schen! Wir  hatten  kein  Recht,  sie  gefangen  zu 
halten !  Das  brannte  in  uns !  Welche  Schuld ! 
ERSTER  UND  ZWEITER  WÄCHTER:  Schnell, 
neue  Schlösser  vor  die  Tür,  keiner  darf  herauf,  der 
Kranke  steckt  uns  an!  ERSTER  UND  ZWEITER 
GEFANGENER:  Die  Treppe  verbarrikadiert !  DIE 
SGHIFFSGEF  AN  GENEN:  Heraus!  (Sie  sprengen 
unten  die  Tür).  NAUKE,  OFFIZIER,  ERSTER 
WÄCHTER,  ZWEITER  WÄCHTER,  ERSTER 
GEFANGENER,  ZWEITER  GEFANGENER  (in 
GewaltsstellungJ :  Tod,  wer  das  Verdeck  betritt! 

NEUNTE  SZENE 

DIE  SCHIFFSGEFANGENEN  (steigen  langsam 
herauf J:  Leben!  NAUKE:  O  Verzweiflung:  Plat- 
zen wir  nicht  an  der  Pest  —  erschlagen  uns  die 
Meuterer!  DER  GOUVERNEUR:  Reine  Gewalt! 
Wir  alle  werden  leben. 


ZEHNTE  SZENE 
Vorige  /  Der  Kranke 

DIE  MEUTERNDEN  SCHIFFSGEFANGENEN 
(sind  auf  dem  Verdeck  angelangt,  in  ihrer  Mitte  ein 
Kranker.  Sie  stehen  zum.  Angriß  bereit):  Luft!  — 
Nieder  mit  den  Schurken !    DER  GOUVERNEUR 

63 


(zur  SchißsbesatzungJ:  Kameraden,  nehmt  mein 
Leben,  ich  rette  uns.  Nicht  Gewalt !  DIESCHIFFS- 
BESATZUNG  lässt  die  erhobenen  Arme  sinken 
und  steht  regungslos  da.  DIEMEUTERNDEN: 
Nieder  mit  euch !  DERGOUVERNEUR!  Men- 
schen! Gemeinschaft!  DIE  ME  ÜT  E  RNDEN: 
Feinde!  Tod!  KLOTZ,  DER  MANN, DIE  FRAU, 
ANNA  fmit  ausgestreckten  Armen):  Gemeinschaft! 
DIEMEUTERNDEN  (lassen  entsetzt  die  Fäuste 
sinken):  DER  KRANKE:  Ich  sterbe.  Warum  er- 
schlagt ihr  uns  nicht?  NAUKE,  OFFIZIER, 
ERSTER  WÄCHTER,  ZWEITER  WÄCHTER, 
ERSTER  GEFANGENER,  ZWEITER  GEFAN- 
GENER (bewegungslos):  Rettung.  Wir  glauben. 
OFFIZIER:  Wie  konnte  ich  vergessen.  Brüder- 
schaft! GOUVERNEUR  (zu  den  Meuternden): 
Ihr  seid  die  Brüder!  DIEMEUTERNDEN:  Wir 
sterben!  DER  KRANKE:  Warum  wehrt  ihr 
euch  nicht.  Wir  sind  krank.  Ist  das  die  Pest?  Dann 
sterb  ich  wie  ein  Hund.  Sie  machen  euch  alle  nie- 
der. DERGOUVERNEUR:  Sie  tun  uns  nichts  — 
Du  stirbst  nicht.  Du  wirst  leben.  Ich  liebe  euch, 
Brüder!  DIE  MEUTERNDEN.  Brüder?  DER 
GOUVERNEUR  (ergreift  den  Kranken):  Freund, 
Kamerad,  mein  Bruder!  Du  bist  die  Zukunft,  wie 
wir  die  Zukunft  sind.  Nimm  mein  Leben,  wenn 
ich  es  geben  soll,  und  lebe  du!  Alle  Menschen- 
kraft, die  durch  die  Welt  fliesst,  strömt  jetzt  durch 
mich.  Alle  Brüder  geben  ihre  Liebe  für  dich,  un- 
ser Leben  ist  für  dich  da!  KRANKER  (zitternd, 
erstaunt):  Ich  hab  nur  noch  Stunden !  DERGOU- 
VERNEUR:    Wer  Bruder  der  Erde  ist,  wird  le- 

64 


ben.  fch  umarme  dich.  Du  bist  niclit  krank.  Icli 
will  es.  Du  bist  nicht  krank.  Wir  wollen  es!  (Er 
umschlingt  ihn.)  DIE  MEUTERNDEN  (leise): 
Die  Pest!  KLOTZ,  DER  MANN,  DIE  FRAU, ANNA 
(umschlingen  gemeinsam,  den  Kranken):  Du  bist 
nicht  krank!  DER  GOUVERNEUR:  O  fühlt  ihr, 
wie  die  Zukunft  wieder  durch  euer  Blut  schiesst? 
Du  bist  nicht  krank!  Du  lebst  in  der  JL.iebe! 
NAUKE,  OFFIZIER,  ERSTER  GEFANGENER, 
ZWEITER  GEFANGENER,  ERSTER  WÄCHTER, 
ZWEITER  WÄCHTER  (lösen  sich  ans  ihrer  Starre, 
umarmen  Klotz,  den  Mann,  Anna,  die  Frau, 
den  Gouverneur,  schwach,  jeder  in  einem  ande- 
ren Seufzer) :  Liebe !  D  E  K  G  O  U  V  E  R  N  E  U  R :  O  Ki  af t, 
wieder  ist  sie  unter  uns!  Unser  Wille  trägt  uns 
wie  ein  Sternenwind  zur  Freiheit  der  Menschen! 
DIE  MEUTERNDEN  (^sc/iwac/i^:  Freiheit?  KRAN- 
KER: Was  habt  ihr  nur  getan?  Ich  fühle  meine 
Glieder  stark.  O  Rettung!  Soll  ich  euch  dienen? 
DER  GOUVERNEUR:  Nein,  du  dienst  uns  nicht. 
Wir  werden  dir  dienen!  Spüre  wie  die  Erde  hell 
wird  vor  unserer  Reinigung!  DER  OFFIZIER: 
Komm,  ich  wasche  dich  !  0  dass  ich  ins  alle  Dunkel 
zurückgefallen  war!  NAUKE  fzu  den  Meutern- 
den): Brüder,  ich  hab  zu  trinken  für  euch,  heim- 
lich versteckt,  Flaschen  für  mich,  ihr  sollt  sie 
haben!  DER  GOUVERNEUR:  Spürt  ihr  wie  das 
Schiff  über  das  Wasser  saust!  Unser  neues  Blut 
treibt  seinen  Lauf.  Das  Ziel  ist  nahe!  KLOTZ  UND 
DER  MANN  (zum  Kranken):  Willst  du  meine 
Hände,  meine  Arme  haben,  meine  Arbeit?  Ich 
gebe  mich  für  dich! 

5    Rubiner,  Die  Gewaltlosen  65 


DER  GOUVERNEUR:  Was  sind  wir  für  die  Men- 
schen? Tra{|en  wir  schon  die  Freiheit  in  unseren 
Händen?  Nein,  so  haben  wir  nur  uns  selbst  ge- 
wonnen! Wir  haben  noch  uns!  Wir  haben  noch 
alles  zu  verlieren!  ANNA  fziim  Gouverneur):  Ich 
war  ferne  von  dir.  Aber  nun  sage  ich  zu  dir:  Ge- 
liebter !  DER  GOUVERNEUR:  Ich  wollte  aus 
uns  allen :  Liebe!  Aber  nun  darf  ich  es  nicht  mehr 
sagen.  Das  ist  noch  Hochmut.  Es  ist  zuviel.  Wir 
^  sind  noch  zu  reich.  Wir  müssen  hinab,  ganz  tief 
hinab  zur  letzten  Armut!  ANNA:  Geliebter,  ver- 
nichte mich,  zerstöre  mich,  dring  in  mich,  tu  mir 
Gewalt  vor  allen,  ich  will  niedrig  sein.  Nicht  einmal 
die  Hand  leg  ich  über  die  Augen!  DER  GOUVER- 
NEUR: Nicht  ich,  Geist  soll  dich  durchdringen. 
Ich  bin  ein  armer  Mensch,  ich  bin  nur  noch  für  die 
Menschheitda!  ANNA--  Bin  ich  nicht  dieMenschheit? 
DER  GOUVERNEUR.  O,  wie  tanzen  wir  alle  noch 
in  der  Macht  und  der  Gier  der  Gegenwart.  Wir 
sind  noch  nicht  arm  genug  für  die  Zukunft! 
NAUKE:  Ich  bin  verloren,  wenn  ich  nicht  mehr 
in  der  Gegenwart  leben  soll.  Die  Zukunft  ist  hoff- 
nungslos. DER  GOUVERNEUR:  So  hoffnungs- 
los, dass  sie  verzweifelt  ist.  Die  Verzweiflung  muss 
über  uns  sein.  —  Wir  haben  noch  zuviel  Hoffnung, 
noch  schlafen  wir !  —  Verzweiflung  über  die 
Welt:  aus  ihr  die  Kraft,  das  Ausserste  zu  wollen! 
Das  Schiff  tobt  an  den  Städten  vorbei,  und  wir 
fürchten  noch  ihre  Gefahr  für  unser  Leben,  unsern 
Willen.  Und  jetzt  sage  ich  euch,  Kameraden,  wir 
müssen  an  Land  !  NAUKE:  An  Land?  In  die  Pest, 
in  die  toten  Städte?      DER  GOUVERNEUR:    So 


müssen  wir  die  lebendige  Stadt  schaffen!  Wir 
müssen  durch  den  letzten  Tod,  durch  den  letzten 
Unrat,  durch  die  erstickende  Pestwolke.  Wir  müs- 
sen zu  den  Menschen ! 

DER  KRANKE:  O  seht,  wie  lang  ist  es  her,  dass 
dies  nicht  mehr  war:  dort  unten  die  Stadt!  Türme 
und  Häuser  wie  Kornähren  dicht,  und  darunter 
klein:  lebende  Menschen!  DIE  MEUTERER: 
Die  Stadt !  Lebende  Menschen !  DER  GOUVER- 
NEUR: O  meine  Brüder,  wir  müssen  hinein  in  das 
Schicksal,  wissend!  Was  haben  wir  getan!  Wir 
haben  durch  die  Flucht  und  durch  die  Erniedri- 
gung nur  uns  gewonnen.  Nun  müssen  wir  uns 
wieder  verlieren.  Wir  sind  zu  sehr  Selbst;  wir 
haben  noch  ganz  unser  Ich.  Wir  müssen  uns  spren- 
gen !  Jetzt  müssen  wir  zerstören !  A  N  IN  A ,  D  l  E 
FRAU:  Zerstören?  DER  GOUVERNEUR:  Zer- 
stören müssen  mir  unsere  letzte  Rettung.  Zerstören 
müssen  wir  die  Planken  unter  unseren  Füssen. 
Wir  müssen  unsere  letzte  Sicherheit  zerstören. 
Wir  dürfen  nicht  mehr  zurück.  Wir  dürfen 
nicht  mehr  fliehen  können.  ANNA:  Was  willst 
du  tun?  DER  GOUVERNEUR:  Wir  müssen  an 
Land  und  das  Schiff  zerstören.  MEUTERER:  Das 
Schiff  zerstören?  ANNA,  DIE  FRAU,  KLOTZ, 
DER  MANN:  Nein!  DER  GOUVERNEUR:  Wollen 
wir  nicht  die  Befreiung?  Wir  befreien  die  Men- 
schen nur,  wenn  wir  als  Freie  zu  ihnen  kommen! 
ANNA:  Aber  das  ist  unser  Tod !  DER  GOUVER- 
NEUR:  Nein,  es  ist  unser  Glaube  für  die  Menschen ! 
Wir  müssen  durch  die  grösste  Versuchung,  um 
alles  zu  verlieren !   DIE  MEUTERER:  Land,  Land! 

5-  6- 


Die  Stadt !  Der  Hafen  ist  da !  N  AU  K  E :  Der  Hafen 
—  Hilfe!  Wir  verrecken  an  der  Pest!  Fort  vona 
Hafen!  DER  GOUVERNEUR:  O  ihr  Brüder,  zu- 
erstmüssen wir  ganz  verschmolzen  sein,  einig  wie 
eine  Wabe  Honig,  ein  einziges  aufblitzendes  Feuer- 
licht in  Liebe,  eh  wir  den  Menschen  die  Freiheit 
bringen.  Brüder!  Wir  sind  eins  in  Liebe!  ALLE: 
Brüder!  Liebe!  DER  GOUVERNEUR:  Menschen! 
W^ir  glauben!  ALLE:  Wir  glauben!  NAÜRE: 
Volldampf  auf  den  Fluss !  Rettung!  —  Nur  weg 
vom  Land!  DER  GOUVERNEUR:  W^elt!  Unser 
Leib  trägt  die  Freiheit  um  die  Erde.  Brüder,  Ka- 
meraden, für  die  Menschheit  werft  ihr  euer  Leben 
fort,  unser  Glaube  wirft  uns  in  die  Zukunft.  ALLE: 
Freiheit!  NAUKE:  Freiheit  zu  leben  —  nicht  zu 
sterben  !  Das  Land  kriecht  schon  über  uns !  Fort ! 
Fort!  DER  GOUVERNEUR:  Den  letzten  Besitz 
von  uns  Armen  zerstör  ich  zur  Freiheit.  Frei  geben 
wir  uns  der  Welt  hin.  ALLE:  Hingabe!  DER 
GOUVERNEUR:  Dieser  Hebel  sprengt  unser 
Schiff  —  er  ist  heisse  Glut.  —  Mut,  Glaube!  Wir 
können  nicht  mehr  zurück.  Vor  uns  die  Stadt! 
Wir  müssen  an  Land  —  wir  dürfen  uns  nicht 
mehr  aufs  Schiff  zurück  retten!  Ich  sprenge  das 
Schiff!  —  Hingabe!  NAUKE:  Nein!  Um  alles  in 
der  Welt:  nicht  der  Hebel!  Ich  habs  nicht  für  Ernst 
gehalten!  Die  Hand  fort  vom  Hebel!  f Stürzt  hin- 
auf zur  Kommandobrücke,  um  dem  Gouvernetir  in 
den  Arm  zu  fallen.)  DER  MANN:  Das  Ufer!  Hier 
ist  das  Land!  Wir  sind  an  Land!  ALLE:  Wir 
sind  an  Land!  DER  GOUVERNEUR:  Zurück!  Ich 
sprenge!  Wer  leben  will:  an  Land! 

68 


ELFTE  SZENE 

Der  Gouverneur  reisst  am  Hebel  der  Komman- 
dobrücke. Das  Licht  verlischt.  Alle  stürzen  vom 
Schijff  an  Land,  als  Letzter  der  Gouverneur.  Im 
Dunkel  fliegt  das  Schijßf  in  die  Luft.  Hell.  Alle  ste- 
hen am  UJer. 

ALLE:  Das  Land!  KRANKER:  Steine  unter 
meinen  Füssen!  Wir  sind  an  Land.  NAüKE: 
Hilfe,  der  Tod  springt  mir  schon  an  den  Hals! 
DER  GOUVERNEUR:  Du  lebst,  glaube  an  deinen 
Willen.  NAUKE:  Verloren!  Das  Schiff  ist  ver- 
loren, wir  können  nicht  mehr  zurück!  DER  GOU- 
VERNEUR: Gerettet.  Zum  ersten  Mal  frei!  DER 
KRANKE:  Da  —  die  Stadt  ist  vor  uns!  NAUKE: 
Das  ist  die  Wirklichkeit!  Hilfe!  Die  Wirklichkeit! 
DER  MANN:  In  die  Stadt!  In  die  erste  Freiheit! 
ALLE:  Die  Stadt!  —  Die  Freiheit! 

Ende  des  zweiten  Aktes 


69 


DRITTER  ART 

In  der  belagerten  Stadt 

ERSTE  SZENE 

Drei  RevolutioDärinnen  der  Stadt 

ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Die  letzte  Schüssel 
Milch  für  alle.  Was  soll  ich  mit  meinen  Kranken 
machen?  ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Wir 
selbst  haben  es  noch  gut.  Aber  meine  Arbeiter  in 
den  Fabriken?  DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ich 
bin  schon  ganz  schwach.  Und  dabei  die  Männer 
immer  wieder  vertrösten,  solang  die  Brotverteilung 
stockt!  ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Man  kann 
keinem  Menschen  mehr  ruhig  ins  Gesicht  schauen, 
so  kriecht  diese  Seuchenluft  um  einen.  Die  Männer 
fallen  an  den  Barrikaden  mit  den  Waffen  in  der 
Hand  um  vor  Hunger,  oder  weil  die  Pest  auf  ihnen 
sitzt.  DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Kein  Mensch 
hat  mehr  zu  essen,  wenn  wir  nicht  sorgen!  Wie 
lange  können  wir  uns  noch  halten?  Was 
sollen  wir  denn  machen?  ERSTE  REVOLUTIO- 
NÄRIN: Wir  müssen  den  Weg  aus  der  Stadt  fin- 
den. Sie  verlieren  sonst  alles  Vertrauen,  das  sie  zu 
unshaben.  DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Wenn 
wir  zu  den  Bürgerlichen  hinüber  kämen  und  mit 
denen  verhandelten.  ERSTE  REVOLUTIONÄ- 
RIN: Wie  sollen  wir  hinüberkommen?  Ein  Schritt 
über  diese  Barrikademauern  und  durch  die  Grä- 
ben, und  wir  sind  erschossen  wie  unsere  Männer! 

70 


ZWEITE  REVOLÜTIONÄllIN:  Ich  kann  diesen 
Hunden  kein  g^utes  Gesicht  machen,  selbst  wenn 
sie  den  Angriff  gegen  die  Stadt  liessen.  Achtzig- 
tausend Menschen  haben  sie  uns  aus  dem  Land 
geschleppt,  achtzigtausend  als  Sklaven  in  die  Berg- 
werke gesteckt,  in  ihren  Kloaken  ersticken  lassen, 
geschlagen,  gefoltert,  zu  Tode  getreten,  als  Skla- 
ven! Was,  dazu  haben  die  ünsrigen  sich  das  Blut 
in  den  Adern  verdorren  lassen,  vor  Arbeit  und 
HungerundMüdigkeit  und  Krankheit,  dass  wir  nun 
mit  den  Bürgern  verhandeln !  ?  Alles  soll  für  nichts 
gewesen  sein?  DRITTE  REVOLUTIOKÄRIN: 
Aber  es  geht  nicht  weiter!  Was  soll  man  machen? 
Die  Ünsrigen  halten  es  nicht  länger  aus.  Und 
heut  war  ein  Tag,  das  war  noch  nie.  So  eine 
Schwäche  kam  plötzlich  über  alle.  Eine  sinnlose 
Hoffnung  wie  bei  Sterbenden! 

ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Zum  erstenmal 
hörte  ich  heut  Gerüchte  in  der  Stadt  —  als  wenn 
sich  etwas  Grosses  geändert  hätte  in  diesem  Elend! 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ich  auch!  ZWEITE 
REVOLUTIONÄRIN:  Als  ob  ein  Flieger  aus  der 
Luft  hunderttausend  Proklamationen  abgeworfen 
hätte,  die  jedem  das  Glück  versprachen.  DRITTE 
REVOLUTIONÄRIN:  Das  ist  viel  unheimlicher 
als  Fliegerzeltel.  Morgen  sind  sie  alle  aus  Ent- 
täuschung auf  Gnade  und  Ungnade  ausgeliefert! 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ausgeliefert,  heisst 
„auf  Ungnade".  ZWEITE  REVOLUTIONÄUIN: 
Es  sollen  Menschen  in  der  Stadt  sein,  die  keiner 
noch  gesehen  hat,  sie  gehen  herum  und  muntern 
die  Schwachen  auf.  Aber  wer  kann  das  glauben? 

71 


Fiebergerüchte.  Wie  sollen  die  hereingekommen 
sein?       DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:     Hinaus- 
kommen!  Wie  kommen  wir  hinaus?  Kämen  wir 
nur  einen  Fuss  breit  hinaus,  so  war  schon  Hoff- 
nung!      ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:    Hinaus- 
kommen —  unmöglich.  Wir  sind  hier  gefangen. 
ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Gefangen!  ERSTE 
REVOLUTIONÄRIN:  Das  erleben  wirnichtmehr: 
die  Freiheit.     ZWEITE   UND  DRITTE  REVOLU- 
TIONÄRIN:   Die   Freiheit!       DRITTE    REVOLU- 
TIONÄRIN: Die  Freiheit  sag  ich?  Wie  kommt  das 
nur  aus  meinem  Mund!  Blumen  wieder  zu  sehen? 
Den    Himmel   über  mir,    Luft   um    mich?    Mein 
Kleid  über  eine  Wiese  wehen?     ERSTE  REVOLU- 
TIONÄRIN: Wie  sind  aber  die  Bürger  aus  diesem 
Schloss  entkommen?  Die  ünsrigen  haben  niemand 
gefangen,  nur  die  paar  Diener,   die  als  Wachen 
an  den  Toren  standen!    ZWEITE  REVOLUTIO- 
NÄRIN:  Die   Bürger  sind   entkommen,   und    am 
ersten  Tag,  als  der  Aufstand  losbrach.      ERSTE 
REVOLUTIONÄRIN:    Dann   müssen   Ausgänge 
aus  der  Stadt  heraus  da  sein !      DRITTE  REVO- 
LUTIONÄRIN:   Ich    bin    ganz    schwach.     Wir 
müssen  suchen!      ERSTE  UND  ZWEITE  REVO- 
LUTIONÄRIN:   Suchen!     Hinunter    in    die    Ge- 
wölbe!     DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Hinun- 
ter. —  Hast  du  Mut?      ERSTE  REVOLÜTIONÄ- 
N:  Jetzt  fragt  keine  nach  Mut.  Hat  auch  keine 
von  uns  gefragt,  als  der  Aufstand  begann.  Es  ist 
das  Letzte!     ZWEITE  UND  DRITTE  REVOLU- 
TIONÄRIN:  Hinunter!  (Die  drei  Frauen  sind  im 
Begriff  in  die  Vei^senkiing  hinabzusteigen.) 

72 


zw  EHE  SZENE 

Vorige  /  Anna 

Anna  steigt  aus  der  Versenkung  ]ierauf. 

DIE  DREI  REVOLUTIONÄRINNEN:  Wo  sind 
wir?  Dort  ist  es  dunkel.  —  Halt,  Geräusch!  Ah! 
—  Wer  ist  da?  (Anna  im.  Licht.)  DIE  DREI 
REVOLUTIONÄRINNEN:  Wo  kommst  du  her? 
ANNA:  Vom  Flusse!  ZW  EI  TE  R  E  V  OLU  TIO- 
nIriN:  Wer  bist  du?  Du  bist  nicht  von  uns! 
ANNA:  Ich  komme  zu  euch.  Man  hat  uns  gehetzt 
wie  Fledermäuse  im  Licht.  Wir  schleichen  tage- 
lang durch  Löcher,  Schutthaufen  von  Häusern, 
durch  Keller  und  Gänge  zu  euch.  Unsere  Brüder 
dringen  durch  die  Mauern  und  Steine  zu  euch  in 
die  Stadt,  wie  Wassertropfen  durch  Erdreich. 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ihr  kommt  zu 
uns?  Und  wir  wollen  hinaus!  ANNA:  Ihr  wollt 
hinaus?  Wohin  wolltihr?  DIE  DREI  REVOLU- 
TIONÄRINNEN: Zur  Freiheit.  ANNA:  Ich  brin- 
ge euch  die  Freiheit!  DIE  DREI  REVOLUTIO- 
NÄRINNEN: Die  Freiheit?  ANNA:  Warum 
zweifelt  ihr!  Vor  einer  Wundersekunde  nur  wart 
ihr  noch  so  sicher  in  eurer  Freiheit.  ERSTE  RE- 
VOLUTIONÄRIN: Die  Stadt  ist  bedeckt  von 
schwarzer  Luft,  Tausenden,  an  glatter  Haut  bre- 
chen plötzlich  Wunden  stinkend  auf,  Abgezehrte 
fallen  in  die  Knie  und  bleiben  tot  liegen;  die  Seu- 
chen wie  vom  Feind  gesandt,  blasen  Signale  durch 
die  Häuser  —  und  ich  bin  gewählt,  für  die  Spi- 
täler zu  sorgen,  Ich.bin  zu  schwach.  ANNA:  Bist 
du  zu  schwach?  Das  ist  gut.  Dann  wirst  du  ein- 

73 


mal  stärker  sein  als  du  jemals  gehofft  hast!  ZWEI- 
TE REVOLUTIONÄRIN:  Was  kann  ich  noch  tun? 
Wir  haben  in  den  Fabriken  keine  Kohlen  mehr, 
keinen  Strom,  die  Treibriemen  sind  dürr  und  fett- 
los und  reissen  am  Rad,  die  Sicherungen  brechen 
im  Metall  und  saugen  die  Arbeiter  in  den  Tod. 
Können  wir  denn  noch  arbeiten?  Was  kann  ich 
machen?  DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Brot 
brauchen  sie !  Brot !  Nur  dies  erste.  Das  Brot.  Es 
ist  nichts  da.  Nichts  mehr.  Diese  Freiheit  ist  die 
Verantwortung,  die  auf  jedem  Menschen  liegt,  — 
Ich  kann  nicht  länger  an  ihr  tragen.  W^er  bin  ich 
noch  ?  Ein  Nichts.  Für  die  andern  —  eine  Lüge. 
ANNA:  Wo  seid  ihr,  Schwestern?  Ihr  seid  fern  Ton 
euch.  Ihr  brecht  zusammen  unter  Kindern,  die 
nicht  eure  Geburten  sind.  Ihr  seid  nur  noch  die 
Buchstaben  eurer  Namen.  Ihr  seid  Beamte,  Mini- 
ster, Leitende  —  aber  rollte  das  aus  euch?  Müsst 
ihr  erst  euch  noch  mit  eurem  Hirn  hersagen,  dass 
ihr  lebt  und  handelt  für  die  Idee?  O,  dann  seid 
ihr  verloren !  Das  erste  Geständnis  vor  euch  selbst, 
und  ihr  seid  verloren,  die  Stadt  verloren,  die  Frei- 
heit ist  verloren!  ERSTE  REVOLUTIONÄRIN: 
Unser  grösster  Mut  war,  dass  wir  die  Verzweiflung 
verbargen.  Da  unten,  das  Volk  glaubt  uns  stark  — 
wüssten  sie,  wie  wir  uns  fesseln,  um  nicht  in  den 
Wahnsinn  des  Nichts  auszubrechen,  so  würden  sie 
an  Hoffnungslosigkeit  sterben  wie  Regenwürmer 
auf  ausgedörrtem  Stein!  ANNA:  Aber  ihr  seid 
verloren,  wenn  ihr  euch  vom  fremden  Sinn  lenken 
lasst!  Ihr  wollt  die  Freiheit?  Ihr  selbst  seid  die 
Freiheit :  Ihr  braucht  nicht  zu  fl  üchten,  ihr  braucht 

74 


nichts  zu  verbergen.  Wie?  ihr  leitet?  ihr  verfügt? 
Ihr  versammelt,  ordnet  an,  gebt  Aufträge,  seid 
Zahlen-Nenner,  macht  Zahlen?  In  welcher  alten 
Welt  lebt  ihr?  Wollt  ihr  die  Kadaver  eurer  selbst 
bleiben?  ERSTE,  ZWEITE,  DRITTE  REVOLU- 
TIONÄRIN: Was  sollen  wir  tun?  ANNA  (zur 
et^stenj:  Lass  deiue  Krankenhäuser,  ERSTE  RE- 
VOLUTIONÄRIN: Ah  —  aber  sie  werden  zerfal- 
len! ANNA:  Die  Kranken  werden  gesund,  du 
wirst  sie  pflegen!  —  (zur  ziveiten:)  Lass  du  deine 
Fabriken!  ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Und 
die  Arbeit,  die  stillsteht?  die  Leere,  dieses  Elend, 
"wenn  nichts  mehr  gemacht  wird?  ANNA:  Sie  soll 
stillstehen.  Du  selbst  wirst  arbeiten!  —  (zur  drit- 
ten:) Kümmere  du  dich  nicht  mehr  ums  Brot! 
DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Hunger!  Hunger! 
Weisst,  was  du  herbeirufst:  Hunger!  ANNA:  Du 
backe  selbst  Brot!  Das  Volk  braucht  euch  nicht! 
Ihr  brauchtet  die  Andern,  weil  ihr  euch  selbst 
braucht! 

ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Aber  das  ist  Auf- 
lösung! ANNA:  O  war  sie  doch  schon  unter  uns 
in  der  Stadt,  die  helle,  ehrliche  Stille,  das  Atem- 
anhalten der  Treibriemen !  ERSTE  REVOLUTIO- 
NÄRIN; Und  sind  wir  dann  noch  nütze?  Wird 
diese  Stille  nicht  uns  selbst  verschlingen?  ANNA: 
Wir  sind  nicht  allein.  Glaubt  ihr,  dass  wir  auch 
nur  stehen  könnten,  wenn  nicht  aus  allen  Städten 
der  Welt  Arme  zu  uns  sich  herüberstreckten!  In 
alle  Mauern  hinein  bohren  sich  Augen,  hinauf 
in  den  Himmel  brennen  Augen.  Zu  uns,  zu  uns! 
Zu  uns  blitzen  sie  her,  verzweifelt,  so  wie  ihr  ver- 

75 


zweifelt  seid.  Jeder  Schrei,  der  aus  uns  auffliegt, 
kommt  aus  den  Millionen  Mündern.  Glaubt  nicht, 
wir  hatten  nur  Kraft,  wenn  wir  in  Regimentern 
einher  stampfen.  Blickt  hindurch  durch  die  Mau- 
ern, springt  über  die  Grenzen!  Stürzt  zu  allen 
Frauen,  die  lieben!  Millionen  Frauen  in  jedem 
Land  stehen  wie  auf  einsamer  Insel,  um  sie  strudelt 
Verzweiflung,  sie  warten  auf  euch.  Millionen  sind 
da,  bebend  bereit  zu  unserm  Kampf!  Blickt  hin, 
wie  diese  Erdkugel  von  Frauen,  eng  gedrängt  starre 
Leiber, und  doch  noch  un  verbunden,  aus  dem  Dun- 
kel aufsteigt,  noch  geschlossene  Augen,  gekreuzte 
Hände,  noch  ein  enger  Riesenfriedhof  von  Haar- 
kränzen, aber  ein  Schrei  aus  euch,  ein  Schrei  zu 
Verwandten:  die  Arme  breiten  sich,  Augen  in 
tiefer  Kraft  finden  euch,  und  ein  Herzschlag  ge- 
meinsam zittert  durch  die  Haut  der  Erde,  dass 
einen  Atemzug  lang  jede  Hand  still  hält,  jede 
Arbeit  ruht,  jede  Fabrik  versinkt,  jeder  Mörder- 
schuss  kraftlos  vor  den  Lauf  zu  Boden  fällt. 
ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  0,und  wie  werden 
sie  essen?  ANNA:  Du  wirst  es  ihnen  nicht  geben, 
wenn  du  nichts  anderes  tun  als  sie  nur  führen 
willst!  Treibe  sie,  meine  Freundin,  sei  unter  ihnen, 
hauche  ihnen  Erregung  ins  Gesicht,  dass  sie  es 
einen  Tag  lang  vergessen.  Ein  Tag  nur,  ein  ein- 
ziger Tag  Ruhe,  ein  Tag  Stille  aller  Menschen 
auf  der  Erde,  und  diese  alte  Welt  ist  verwischt; 
eure  Mauern  und  Gräber  treiben  die  Feinde  selbst 
zurück,  ohne  dass  einer  von  uns  die  Hand  regt. 
Ein  Tag  nur  ganz  eure  Kraft,  euer  Lächeln,  euer 
Duft,  euer  Atem! 

76 


DRITTE  SZENE 

Vorige  /  Das  Volk  draussen 

DAS  VOLK  (draussen  Bewegung):  Hunger!  DIE 
DREI  REVOLUTIONÄRININEN:  Das  Volk !  Sie 
warten  auf  uns!  Was  rufen  sie?  DAS  VOLK 
(draussen):  Hunger!  ERSTE  REVOLUTIONÄRIN: 
Ich  höre:  Hunger!  ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN: 
Was  sollen  wir  tun?  DRITTE  REVOLUTIONÄ- 
RIN :  Sie  hoffen  auf  uns.  Wir  können  sie  nicht  im 
Stich  lassen.  ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN: 
Wir  müssen  an  die  Ärheit.  DRITTE  REVOLU- 
TIONÄRIN: Wir  können  nicht  hierhleiben.  Sie 
warten  auf  die  Neuordnung  der  Verteilung.  ANNA: 
Ihr  müsst  zu  ihnen.  Ihr  dürft  sie  nicht  täuschen 
mit  neuen  Verfügungen.  Ihr  müsst  unter  ihnen 
sein,  und  ihnen  helfen.  Helfen  zum  ersten  neuen 
Tag  der  Welt.  VOLK  (draussen):  Hunger! 
(Schläge  an  der  Tür.) 

VIERTE  SZENE 
Vorige  /  Der  junge  Mensch 

JÜNGERMENSCH  (tritt  auf) :  Wir  können  nicht 
länger  warten.  Alle  Quartiere  sind  zur  neuen  Ver- 
teilung der  Arbeit  bereit.  DRITTE  REVOLUTI- 
ONÄRIN: Ich  glaube,  wir  haben  nichts  zu  ver- 
teilen. JÜNGER  MENSCH:  Ihr  habt  nichts? 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Nichts.  JÜNGER 
MENSCH:  Ihr  seid  noch  nicht  fertig,  während 
wir  auf  euch  warten?  DRITTE  REVOLUTIONÄ- 
RIN:   Wir    wollen    nicht.      JÜNGER   MENSCH: 

77 


Wollt  nicht?  Luft  schlägt  an  mein  Ohr?  ZWEITE 
REVOLUTIONÄRIN.  Wir  retten  euch.  JUNGER 
MENSCH:  Mit  nichts!  ERSTE  REVOLUTIO  iNÄ- 
RIN:  Wir  helfen!  JUNGER  iMENSCH:  Bin  ich 
unter  den  Führerinnen?  Wisst  ihr,  was  euch  er- 
wartet? Auf  euch  hahen  wir  unsere  Verteidigung 
gestellt.  Und  nun  nichts?  ZWEITE  REVOLUTI- 
ONÄRIN: Wir  treten  von  der  Leitung  der  Arbeit 
zurück.  JUNGER  MENSCH:  Zu  Spät!  ANNA:Nicht 
zu  spät  für  die  Menschlieit!  Jetzt  seid  ihr  bereit! 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ith  gehe.  In  mir 
brennt  das  Blut  einer  neuen  Erde.  Freundinnen, 
zum  erstenmal  bin  ich  glücklich! 

Die  drei  Revolutionärinnen  gehen  ah 
Nach  einem  Augenblick  draussen:  Ungeheurer  Lär-m 

des  Volkes 
DIE  STIMME  DER  ERSTEN  REVOLUTIONÄ- 
RIN:  Menschheit!       DIE    STIMME   DER    ZWEI- 
TEN REVOLUTIONÄRIN:    Drüben   .  .  .  leben 
.  .  .  die  Schwestern! 

Lärm  des  Volkes 
Stille  draussen 


FÜNFTE  SZENE 

Vorige,  ohne  die  drei  Revolutionärinnen, 
und  das  Volk 

JÜNGER  MENSCH  (zu  Anna):  Du  bist  das!  Was 
soll  das!  Wer  bist  du?  Feinde  werden  beseitigt! 
ANNA:  Du  siehst  aus  wie  ein  Freund.  JÜNGER 
MENSCH:  Du  sprichst,  als  hättest  du  ein  eigenes 

78 


Recht  —  und  bist  doch  genau  wie  alle  anderen 
Frauen.  Heute  machen  wir  keinen  Unterschied 
mehr!  ANNA:  Gerade  weil  ich  bin  wie  alle  an- 
dern, spreche  ich  mit  meinem  eigenen  Recht  zu 
dir.  JUNGER  MENSCH:  Du  bist  nicht  schön.  Aber 
etwas  an  dir  reizt  einen  Mann.  Komm!  ANNA:  Du 
bist  offen  und  schnell.  JUNGER  MENSCH:  Was 
bleibt  einem  heute?  Vielleicht  ist  man  eine  Stunde 
später  tot.  ANNA:  Meine  Zeit  ist  um.  Leb  wohl. 
Nun  muss  ich  fort.  JUNGER  MENSCH:  Schon? 
Warum  schon?  Komm  zu  mir,  ich  weiss  einen 
Platz  für  uns.  ANNA:  Nein,  ich  kenne  einen 
besseren  als  dich!  JUNGER  MENSCH:  Oh.  Alle 
sind  wie  ich,  es  ist  gleich.  ANNA:  Weisst  du 
nichts  Besseres  von  dir?  Alle  Frauen  sind  wie  ich. 
Auch  das  ist  gleich.  Du  brauchst  nicht  mich. 
Aber  ich  such  einen,  der  leben  will,  nicht  sterben. 
JÜNGER  MENSCH:  Wie  soll  das  einer  heute  wis- 
sen? Es  ist  gleich;  ANNA:  Du  musst  es  wol- 
len. JÜNGER  MENSCH:  Das  kann  unsereiner 
nicht  mehr,  dazu  haben  wir  keine  Zeit.  ANNA: 
So  schaff  dir  die  Zeit.  JUNGER  MENSCH:  Ich 
muss  arbeiten. 

ANNA:  Wahnsinn,  wenn  ich  euch  höre!  Du  Ar- 
mer. Hast  du  denn  noch  das  Auge,  mich  anzuse- 
hen ?  JUNGER  MENSCH:  Es  ist  wahr.  Ich  habe 
mehr  eine  Lust  von  dir  herüber  gespürt.  Ich  sehe 
dich  jetzt  zum  erstenmal  an.  ANNA:  Hast  du 
schon  deine  Hände  zum  erstenmal  angesehen? 
Hast  du  schon  deine  Arbeit  zum  erstenmal  ange- 
sehen? Deine  Maschine?  Deine  Fabrik?  Deinen 
Weg  am  Morgen  bis  zur  Nacht?  Deine  Genossen? 

79 


Deine  Stadt?  Die  Welt  draussen?  JUNGER 
MENSCH:  und  die  Arbeit?  ANNA:  Die  Arbeit 
ist  euer  Tod!  JUNGER  MENSCH:  Ah  —  nein, 
das  weiss  ich  schon:  "wie  sollen  wir  uns  anders 
aufrecht  erhalten?  ANNA:  Ihr  hallet  eure  Feinde 
aufrecht,  die  Bürger.  JUNGER  MENSCH:  Wir 
können  heute  nicht  mehr  anders  als  arbeiten. 
ANNA:  Dazu  hat  dich  deine  Mutter  geboren,  dass 
du  nicht  mehr  anders  kannst,  dass  du  gehorchst, 
dass  du  nicht  weisst,  was  du  tust?  Du  hast  ja  nicht 
einmal  Zeit  und  Fieiheit,  mich  anzuschauen  und 
deine  Arme  um  meinen  Hals  zu  legen!  Deine 
Arme?  Deine  Arme  wissen  längst  nichts  mehr  von 
dir  seit  deiner  Kindheit  —  deine  Beine  sind  nur 
noch  zum  Stehen  an  der  Maschine  gut,  dein  Bauch 
zum  Verdauen,  dein  Glied  zum  Krankheitverbrei- 
ten und  zum  Zeugen  von  Kindern,  die  so  jämmer- 
lich leben  wie  du  selbst,  und  dein  Kopf  um  über 
der  toten  Beschäftigung  deines  Körpers  zu  wachen. 
Du  weisst  nichts  von  dir,  du  weisst  nichts  von 
mir.  Was  hast  du  vom  Leben?  JUNGER  MENSCH: 
Und  wenn  ich  heute  aufhöre?  Morgen  ist  es  wie- 
der das  Gleiche.  Wir  können  nicht  mehr  heraus. 
ANNA:  Nein!  Du  bist  nicht  allein,  Ihr  alle  müsst 
aufhören.  Ihr  müsst  alle  einmal  wieder  wissen, 
woher  ihr  kommt,  dass  ihr  lebt,  dass  ihr  Freiheit 
habt,  zu  tun,  was  ihr  wollt  und  nichts  zu  tun. 
Sieh  mich  an.  Bei  mir  hast  du  mehr  als  Lust:  Du 
hast  die  Freiheit. 

JÜNGER  MENSCH:  Ich  höre  schon  in  meinem  Ohr 
eine  andere  Antwort  rauschen,  als  ich  dir  sagen 
wollte.  Aber  ich  bin  nicht  allein,  ich  halte  fest. 

80 


Wenn  wir  aufhören  zu  arbeiten,  dann  überrum- 
pelt der  Feind  uns  wie  Kinder.  Binden  werden  uns 
die  Bürger,  fortschleppen,  ermorden  oder  in  die 
Bergwerke  schmeissen  und  zur  Todesarbeit  peit- 
schen, sie  würden  in  die  Stadt  dringen,  ohne  Wi- 
derstand zu  finden.  ANNA:  Ja,  mein  Freund,  mein 
Gehebter,  lass  mich  deine  Hüfte  fühlen!  Sie  wür- 
den kommen,  ohne  Widerstand  zu  finden.  Wie 
durch  Kissen  würden  sie  gehen,  auf  Weichem 
würden  sie  schreiten  —  und  darin  versinken!  Auf 
unheimlich  Weichem  würden  sie  schreiten  müssen! 
Einer  nach  dem  andern  aus  ihrem  Heer  sinkt  ein 
in  eure  Widerstandslosigkeit,  einer  nach  dem  an- 
dern lässt  die  Hände  sinken  vor  euren  ruhenden 
Händen.  Einer  nach  dem  andern  hungert  neben 
eurem  Hunger.  Einer  nach  dem  andern  wird  um- 
gurgelt von  der  steigenden  und  steigenden  Flut 
der  Gewaltlosigkeit.  Schaut  hin,  ihr  hattet  die 
Feinde  mitten  unter  euch,  und  während  sie  noch 
um  sich  schlugen,  fielen  ihnen  die  Waffen  aus  den 
schreckzitternden  Händen.  Sie  waren  wissend  ge- 
worden. Sie  waren  wissend  geworden  von  sich  — 
durch  euch.  Die  Feinde  sind  zersplittert,  versun- 
ken, die  Bürger  sind  verschwunden.  —  Ihr  habt 
die  neuen  Brüder  unter  euch!  JÜNGER  MENSCH: 
Komm,  ich  weiss  einen  grünen  Rasen  mit  Büschen 
am  Wasser.  Dieser  Abend  wird  so  schön,  die  Sonne 
ist  noch  rötlich  da.  ANNA:  Du  weisst  es  heut 
zum  erstenmal.  Komm  —  ich  muss  bald  fort,  zu 
den  Brüdern.  JÜNGER  MENSCH:  O,  warum  so 
schnell!  Kommt  mit  mir!  Nimm  dir  doch  Zeit, 
Zeit,  Zeit!  Was  hindert  uns?  Mach  dich  frei,  wie 

6    Rubiner,  Die  Gewaltlosen  8t 


ich!  ANNA:  Nun  weiss  ich,  dass  die  Erde  nicht 
verloren  ist!  —  Korarti,  (Beide  ab.)  JUNGER 
MENSCH  (im  Abgehen):  Frei!  Frei!  Keine  Hand 
arbeitet  mehr!  {ab.) 

SECHSTE  SZENE 

Nauke  /  Der  Führer  der  Bürger 

Aus  der  Versenkung  die  Stimme  des  Nauke  imd 

des  Bürgers. 

STIMME  DES  FÜHRERS  DER  BÜRGER:  Das  ist 
Licht.  STIMME  DES  NADKE:  Natürlich  ist  da 
der  Ausgang,  ich  wusste  es  ja!  STIMME  DES 
FÜHRERS  DER  BÜRGER:  Aber  wenn  wir  mitten 
hinein  unter  sie  geraten  ?  Kann  ich  dir  auch  trauen  ? 
STIMME  DES  NAUKE:  Ihr  habt  mir  solang  ge- 
traut, wenn  ihr's  jetzt  nicht  mehr  tut,  ist  es  zu 
spät!  STIMME  DES  FÜHRERS  DER  BÜRGER: 
Geh  du  vor!  STIMME  DES  NAUKE:  Wieder  zu 
spät.  Ich  bin  dir  durch  den  ganzen  Gang  voraus- 
gekrochen, jetzt  könnt  ich  beim  besten  Willen 
nicht  hinter  euch  gehen! 

NAUKE  (steigt  aus  der  Versenkung  herauf):  Nie- 
mand. Wir  werden  nicht  überrascht.  DER  FÜH- 
RER DER  BÜRGER  (steigt  hinter  Nauke  herauf): 
Das  war  eine  verfluchte  Wanderung,  stundenlang 
durch  den  engen,  schleimigen  Gang!  NAUKE: 
Was  willst  du?  Was  redest  du?  Ich  hab  vor  euch 
den  Dreck  im  Gang  an  meinen  Kleidern  aufge- 
wischt, und  jetzt  ist  es  euch  nicht  fein  genug  ge- 
wesen. Bin  ich  dir  vielleicht  selbst  zu  schmutzig? 
FÜHRER  DER   BÜRGER:    Du   nennst   mich  du? 

82 


NAUKE:  Ho,  Bürger,  man  nennt  jeden  du,  mit 
dem  man  etwas  durchgemacht  hat.  FÜHRER 
DER  BÜRGER:  Du  hast  mir  versprochen,  dass  du 
mich  zu  den  Führern  bringst.  NAÜKE:  Ich  hab 
schon  einmal  gesagt,  ich  nehme  keine  Belohnung. 
Ich  tu's  aus  reiner  Menschenliebe.  Verhandlungen, 
ja.  Geheime  Verhandlungen:  wunderschön.  Aber 
ihr  wollt  doch  nicht  etwa  spionieren?  FÜHRER 
DER  BÜRGER:  Spionieren,  mein  Freund,  da  hätt' 
ich  dich  gebeten  —  tätest  du  das  nicht  auch  aus 
reiner  Menschenliebe?  NAUKE:  Was  heisst  das? 
V^as  wird  das?  Bürger,  du  beleidigst!  Du  hast 
mich  drüben  am  Ufer  angeredet.  Du  hast  mir  ge- 
sagt, dass  du  zu  den  Revolutionären  gehen  willst, 
um  sie  mit  euch  zu  versöhnen,  aber  ohne  öffent- 
lichen Lärm,  ohne  starre  Haltung,  als  einfacher 
Mensch.  Ich  habe  dir  den  geheimen  Zugang  zur 
Stadt  gezeigt,  denn  du  hast  mir  geschworen,  dass 
du  nicht  Missbrauch  triebest.  Alles  um  der  Ver- 
söhnung willen.  Du  weisst  es.  Warum  sprichst  du 
nun  krumm?  Denke  dir,  hättest  du  es  nicht  mit 
mir  zu  tun,  ein  anderer  hätte  dir  schon  lang  eine 
auf  den  Kopf  gegeben.  FÜHRER  DER  RÜRGER: 
Eben  weil  ich  es  mit  dir  zu  tun  habe!  Selbst  wenn 
ich  spionieren  würde,  geschähe  es  nur  zum  Besten 
der  Revolutionäre.  NAUKE:  Das  ist  mir  zu  hoch. 
Du  bist  doch  ihr  Feind?  Warum  rückt  denn  ihr 
Bürger  aus  und  belagert  sie?  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Eben  zum  besten  der  armen,  unwissen- 
den Revolutionäre.  NAUKE:  Sie  können  selbst 
wählen,  was  ihnen  zum  besten  ist.  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Nein,  dafür  denken  sie  zu  einfach.  Sieh, 

6*  83 


man  muss  doppelt  denken  können,  wie  wir,  drei- 
fach denken  muss  man  können,  nach  jeder  Seite 
hin.  Kannst  du  doppelt  denken?  NAUKE:  Nein, 
ich  kann  nur  ganz  einfach  denken,  und  auch  das 
nur  mit  Mühe,  ich  gestehe! 

FÜHRER  DER  BÜRGER:  Siehst  du!  Wir  haben 
gelernt,  auf  soviel  Arten  zu  denken,  wie  es  Zahlen 
und  Menschen  gibt.  Für  jeden  etwas.  Darum  wis- 
sen wir  Bürger  besser,  was  für  die  Revolutionäre 
gut  ist,  als  sie  selbst.  Sie  müssen  sich  mit  uns  ver- 
söhnen. Aus  Menschenliebe!  NAUKE:  Versöhnen, 
Menschenliebe?  Das  versteh  ich.  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Sie  müssen  damit  anfangen,  weil  wir  es 
besser  wissen.  NAUKE:  Das  versteh  ich  nicht 
mehr.  Das  ist  gewiss  schon  das  doppelte  Denken. 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  Wir  werden  jedermann 
das  doppelte  Denken  lehren,  auch  dich,  mein 
Freund.  Wenn  erst  alle  Revolutionäre  doppelt 
denken,  nach  rechts  und  nach  links,  dann  ist  die 
Revolution  zu  Ende,  alle  sind  wie  wir,  und  das 
Leben  im  Paradies  beginnt.  NAUKE:  Das  Leben 
im  Paradies?  Was  muss  ich  tun,  damit  wir  schnell 
dazu  kommen? 

FÜHRER  DER  BÜRGER:  Da  musst  zwei  Gesichter 
machen.  Eins  für  sie  und  eins  für  uns.  Freund,  ich 
kenne  dich,  ich  weiss  wie  gut  du  es  meinst.  Damit 
das  Glück  bald  kommt,  müssen  alle  Revolutionäre 
auf  unserer  Seite  sein.  Damit  sie  auf  unserer  Seite 
sind,  müssen  sie  in  unseren  Händen  sein.  Damit 
sie  in  unseren  Händen  sind,  müssen  sie  uns  er- 
geben sein.  Das  ist  doch  alles  ganz  klar.  Und  er- 
geben sind  sie,  wenn  sie  ahnen,  wie  stark  wir  sind, 

84 


und  wenn  sie  schwach  werden.  NAUKE:  Stark 
sein  —  und  schwach  werden?  Das  hab  ich  sclion 
gehört,  das  sagten  schon  die  Brüder  auf  dem  Schiff. 
Ich  glaube,  du  bist  mein  Mann!  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Das  weiss  ich  längst.  —  Damit  sie 
bereit  werden,  müssen  sie  Tag  und  Nacht  unab- 
lässig an  der  Maschine  liegen.  Unterdessen  be- 
raten wir  uns  mit  ihren  Führern,  und  ziehen  sie 
auf  die  Seite  der  Versöhnung,  Wir  erkunden  die 
Hilfskräfte  und  die  Zugänge  der  Stadt  —  warum 
gleich  spionieren  sagen?!  —  dann  kommen  wir. 
Dann  haben  wir  sie,  dann  belehren  wir  sie  und 
dann  beginnt  das  Paradies.  NAUKE:  Dann  be- 
ginnt das  Paradies?  Und  was  kann  ich  dazu  tun? 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  O  viel,  mein  Lieber.  Du 
gehst  in  die  Fabriken,  und  machst  dein  fröhlich- 
stes Gesicht:  hundertfache  Arbeit.  Und  dann  vor 
allem  die  Getreidespeicher,  sehr  wichtig,  eine 
Zündschnur  —  puff,  die  ganze  Bude  fliegt  auf! 
Sie  müssen  hungern,  dass  sie  die  Fliegen  an  der 
Wand  beneiden.  Dann  gehst  du  zu  den  Kämpfern 
und  machst  ihnen  begreiflich,  wenn  sie  aufhören 
die  Revolution  zu  verteidigen,  und  uns  endlich 
herankommen  lassen,  oder  wenn  sie  gar  wie  du, 
mein  lieber  Freund,  —  zu  uns  herüberkommen, 
dann  beginnt  das  Paradies!  Und  vor  Allem:  Wir 
liefern  das  Essen!  Du  sagst  ihnen:  Alles  Essen, 
was  nicht  von  uns  kommt,  ist  vergiftet.  Nur  wir 
haben  das  gute  Essen!  NAUKE:  So  viel  auf  ein- 
mal, das  ist  gewiss  das  doppelte  Denken!  Du  hast 
mich  damals  gewonnen,  damit  ich  dich  zu  den 
F^ührern  bringe,  für  die  Versöhnung.     FÜHRER 

85 


DER  BÜRGER:  Aber  wie?  du  willst  dich  davon- 
machen? Hast  du  denn  kein  Gewissen?  Du  musst 
doch  mitarbeiten  am  Paradies?  Tu  du,  was  ich 
dir  gesagt  habe,  dann  wirst  du  ein  ganz  grosser 
Mann  sein!  NAUKE:  Mein  Gewissen,  mir  ist  un- 
heimlich. FÜHRER  DER  BÜRGER:  Das  ist  noch 
dein  altes,  dummes,  billiges  Gewissen.  Ich  lehre 
dich  doch  gerade  unser  neues,  feines,  doppeltes 
Gewissen!  Jetzt  den  Weg  zu  den  Führern.  Mit 
denen  werd  ich  schon  fertig.  NAUKE:  Den  Weg 
zu  den  Führern.  Ich  bring  dich.  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Zeig  ihn  mir,  ich  finde  ihn.  Du  hast 
anderes  zu  tun !  Sag  du  den  Revolutionären,  was 
ich  dir  gesagt  habe.  Dann  werdet  ihr  alle  glück- 
lich! (Der  Führer  der  Bürger  und  Nauke 
im  Abgehen.)  NAUKE  (itn  Jhgehen):  Hundert- 
fache Arbeit,  lustiges  Gesiebt  in  den  Fabriken, 
Getreide  hoch,  Hunger,  Versöhnung,  den  Anlang 
machen:  das  bab  ich  schnell  gemerkt,  das  war 
wie  auf  dem  Schiff.  Aber  dann:  Ausliefern,  zu  den 
Bürgern  übergehen!  das  kommt  hinzu.  Das  dop- 
pelte Gewissen  —  das  ist  neu.  Und  dann  kommt 
das  Paradies!  (Beide  ah.) 

SIEBENTE  SZEjSE 

Der    Gouverneur    und    der    Mann    treten    in 
Eile  auf 

DER  MANN:  Hier  gingen  sie.  Es  ist  kein  Zweifel. 
DER  GOUVERNEUR:  Du  bist  sicher,  dass  es 
Nauke  war?  DER  MANN:  Mit  einem  Feinde! 
DER  GOUVERNEUR:  Was  ist  das?  DER  MANN: 

86 


Verrat !  Die  Stadt  ist  verraten !  DER  GOUVER- 
NEUR: Verraten?  DER  MANN  :  Verraten.  Mehr 
noch,  es  ist  nicht  zu  fassen :  Von  einem  der  Uns- 
rigen.  Wir  sind  verraten!  DER  GOUVERNEUR: 
Schlimmer!  Wir  sind  auch  die  Verräter!  DER 
MANN:  ünmögUchkeit !  Zusammensturz !  Raserei ! 
Woher  kommen  wir?  Welches  Recht  haben  wir, 
zu  leben?  Wenn  das  möghch  war,  hat  alles  keinen 
Sinn  mehr!  Wenn  das  möglich  war,  hat  nichts  je 
Sinn  gehabt.  Dann  sind  wir  Betrüger,  Betrüger! 
DER  GOUVERNEUR:  Du  weisst,  dass  es  Sinn 
hat,  du  weisst  welchen  Sinn.  Aber  vielleicht  waren 
wir  lässig,  vielleicht  hochmütig,  Verrat  ist  Miss- 
verständnis. Dass  Missverständnis  möglich  war?  — 
vielleicht  hatten  wir  zu  wenig  Liebe?  —  Immer 
wenn  die  Stunde  gross  wird,  kommt  Verrat.  Ge- 
rade den  Verrat  muss  man  überwinden.  DER 
MANN:  Wie?  DER  GOUVERNEUR:  Ihn  un- 
wichtig machen.  Verrat  kann  nur  gegen  die  Per- 
son gehen.  Aber  verrate  du  das  Volk?  unmöglich. 
Wir  müssen  den  Verrat  aus  der  Welt  schaffen. 
DER  MANN:  Aber  er  ist  geschehen.  DER  GOU- 
VERNEUR: Wir  laufen  ihm  entgegen,  wir  kom- 
men ihm  zuvor,  wir  überbieten  ihn.  Wir  stellen 
uns  ihm.  DER  MANN:  Verhandeln  mit  den 
Feinden,  den  Bürgern,  den  Generälen?  DER 
GOUVERNEUR:  Nein,  nicht  verhandeln.  Wir 
geben  uns  dem  Feind.  Er  fordert  —  wir  geben 
alles.  Er  fordert  Waffen,  wir  legen  sie  hin.  Er 
will  Geld,  wir  geben  ihm,  was  da  ist,  er  will  Speise, 
wir  geben  ihm  die  unsere.  Er  will  unser  Leben, 
wir  zeigen  ihm,  dass  wir  es  opfern.  Er  kann  nichts 

87 


mehr  fordern.  Er  ist  allein,  und  ihm  bleibt  nur 
noch  zu  verlanf^en,  dass  er  werde  wie  wir  selbst,  — 
DER  MANN:  Und  das  Volk?  DER  GOUVER- 
NEUR: Wir  geben  zurück,  was  wir  vom  Volk 
empfingen.  Wir  bringen  ihm  Brüder,  aber  solange 
die  Brüder  noch  Feinde  sind,  werfen  wir  uns  vor 
sie,  und  wir  opfern  ihnen  unser  Schicksal !  —  Zu 
den  Feinden!  —  Ich  kreuze  ihren  Angriff.  Ich 
laufe  durch  die  Stadt,  und  wo  ich  nur  einen  Wind- 
stoss  von  bürgerlicher  Luft  wittre,  da  tret  ich  hin, 
als  ein  Mensch,  der  die  Ehre  der  Vergangenheit 
nicht  mehr  hat.  —  Ich  gehe  zu  den  Feinden,  den 
Gang  der  Selbstvernichtung.  (Gouverneur  ah.) 
DER  MANN:  Du  gehst  den  Gang  der  Liebe.  Ich 
gehe  zum  Volk,  den  Gang  der  Zerstörung. 

ACHTE  SZENE 
Der  Mann  /  Klotz 

KLOTZ  f stürzt  auf):  Ich  bin  zu  euch  quer  durch 
die  ganze  Siadt  gerannt.  DER  MANN:  Dass  du 
kommst!  —  Dein  Auge,  dein  Mund,  ob  dieses  Volk 
reif  ist?  —  KLOTZ:  Spring  heraus  aus  deiner 
Hirn  weit,  Freund!  Wir  müssen  unter  sie,  arbeiten, 
als  hätt'  jeder  von  uns  tausend  Leiber  —  sonst  war 
alles  verloren!  Aus  Kellerlöchern  komm  ich  hier, 
von  ünratswinkeln,  aus  Versammlungen,  suchte 
euch  zusammen.  Sie  plündern,  Menschen  sind  er- 
schlagen, eigene  Genossen  auch.  Raub  wo  ein 
Bissen.  Ein  Zündholz  ist  Besitz.  Und  dabei  geht 
die  Arbeit  weiter.  Eine  unsichtbare  Hand  greift  in 
die  Massen  und  treibt  sie  gegen  ein  Haus.  Durch- 


suchung.  Zwei  Schritte  daneben  läuft  das  Leben, 
als  sei  seit  Unendlichkeit  nichts  verändert.  DER 
MANN:  Und  alles  spielt  den  Bürgern  in  die 
Hände?  KLOTZ:  Das  alles  spielt  den  Feinden  in 
die  Hände.  Wenn  nicht,  eh  noch  die  Bürger  in  die 
Stadt  dringen,  eine  Umkehr  kommt,  ungeheure 
Umkehr  geschieht,  dann  ist  das  Volk  verloren. 
Zerhackt  wird  alles,  erstickt  die  Freiheit.  DER 
MANN:  Kamerad,  ist's  jetzt  nicht  gleich,  was  ge- 
schieht? Wird  nicht  ewig  in  diesem  Volk  die  Idee 
leben,  wird  nicht  unsterblich  unter  ihnen  die 
Freiheit  umhergehen?  KLOTZ:  Nein,  nein,  nein! 
Das  Schlimmste  kommt,  das  Entsetzlichste:  eine 
Sklavenhorde.  Die  Freiheit  wird  ewig  gestorben 
sein.  Wir  taten  noch  nichts,  nun  müssen  wir  alles 
tun.  DER  MANN:  Alles  tun,  Kamerad.  Ja,  alles 
in  einem  Augenblick.  KLOTZ:  Betrug!  Wer  das 
sagt:  Alles  oder  nichts!  —  denkt  alles  und  bleibt 
beim  Nichts.  Schritt  für  Schritt  musst  du  vor- 
gehen. Dein  Leben  hingeben  ganz  an  die  Tat  — 
selbst  ohne  Freude,  nur  um  es  zu  geben! 
DER  MANN:  Aber  Plündern  sagtest  du!  Raub!  sie 
morden !  Wo  bleibt  das  ewige  Bild  des  Menschen, 
wo  bleibt  unsere  ewige  göttliche  Abkunft,  wo 
bleibt  das  freie  Menschenleben,  dafür  wir  her- 
kamen? Ich  werfe  mich  ihnen  vor  den  Weg! 
KLOTZ:  Nein,  nie!  Halte  sie  nicht.  Wenn  du  sie 
hältst,  wenn  du  ihnen  Licht  predigst,  um  sie  zu- 
rückzuhalten, dienst  du  der  Finsternis.  DER 
MANN:  Aber  Mord?  Sie  dienen  dem  Teufel. 
KLOTZ:  Nein,  sie  dienen  Gott.  Sie  müssen  hin- 
durchgehen durch  die  Niedrigkeit,  um  die  Nied- 

89 


rigkeit  zu  erkennen.  Sie  müssen  sich  beflecken, 
um  Reinheit  sehen  zu  können.  DER  MANN:  Aber 
wofür  zertrümmern  sie?  Wir,  wir  sind  Brüder  der 
Gemeinschaft.  Wir  kämpfen  für  die  Menschheit. 
Aber  sie,  ihr  Leben  ist  eine  Blutlache.  Und  wofür? 
KLOTZ:  Auch  sie  für  die  Menschheit!  DER  MANN: 
Und  wir?  W^as  müssen  wir  also  tun?  KLOTZ: 
Uns  opfern.  DER  MANN:  Untergehen?  Befreit 
von  der  Welt?  KLOTZ:  Nein,  nicht  befreit  von 
der  Welt,  sondern  mit  der  Last  aller  Weltkugeln 
des  Himmels  auf  den  Schultern.  Nicht  untergehen, 
sondern  unter  sie  gehen.  Einer  von  ihnen  werden. 
DER  MANN:  W^ie  —  mit  ihnen  morden?  In  wel- 
chen reissenden  Absturz  setzte  ich  den  Fuss! 
KLOTZ:  Nicht  das  Morden!  Wir  morden  nicht. 
Nein  —  breite  die  Arme  und  schwimm  unter  ihnen . 
Du  musst  ihre  Welle  verstärken,  dass  ihr  grosser 
Gleichstoss  durch  dich  rinnt  und  nur  mit  dir  noch 
lebt!  DER  MANN:  Aber  wir  sind  die  Führer. 
KLOTZ:  Lausche  auf  die  Stimmen,  die  aus  dem 
Dunkel  ans  Tageslicht  steigen.  Höre  das  Geheim- 
nis der  Erde;  Es  gibt  keine  Führer.  Führertum  ist 
Betrug!  Du  musst  ein  Teil  sein,  eine  geringe  Zelle 
von  ihnen;  ein  Zucken  nur  in  ihren  Muskeln. 
DER  MANN:  Und  das  Letzte?  Die  Ewigkeit?  Das 
Unbedingte,  daran  nichts  abzuschneiden  ist?  Die 
Freiheit?  KLOTZ:  Mann,  nur  zu  ihm  musst  du! 
Zum  Letzten,  Höchsten,  wovon  wir  stammen. 
Aber  hindurch  musst  du  zu  ihm  durch  unsere 
endlichen,  zeitlichen,  befleckten  Leiber,  durch  die 
Schwierigkeit  des  Kleinen,  durch  den  Schweiss 
der  Sünde.  Alles  musst  du  wollen,  die  allerletzte 

90 


grösste  Freiheit  der  Menschen,  so  gross,  dass  sie 
selber  die  Erdkugel  durch  den  Raum  schicken 
können  —  musst  es  wollen,  und  musst  wissen, 
dass  du  es  nach  und  nach  erst  machen  wirst,  von 
Volk  zu  Volk,  Stadt  zu  Stadt,  von  Mensch  zu 
Mensch.  Hart  ist  das.  Zu  dem  unendlichen  Glück 
der  Menschheit  müssen  wir  durch  den  ganzen 
Trümmersturz  des  Menschseins.  DER  MANN:  Und 
du  meinst,  das  ginge  so  leicht?  Die  Idee  umgibt 
uns  mit  einem  Stachel panzer,  wir  können  ihr  nicht 
folgen,  ohne  unsere  Umgebung  zu  verwunden. 
KLOTZ:  Dreh  ihn  um  den  Stachel  panzer;  ver- 
wunde nicht  die  andern,  stich  dich  selbst!  Unser 
Opfer  müssen  wir  bringen,  unser  eigenes  Opfer. 
DER  MANN:  Abtreten?  KLOTZ:  Mehr,  mehr, 
das  ganze  Dasein  geben!  Wir  waren  die  Führer, 
wir  ragten  auf,  sandten  Ströme  von  uns,  die  die 
Massen  bewegten.  Das  war  unsere  Sünde!  Die 
Welt  wird  neu.  Wir  haben  kein  Recht  mehr,  zu 
sein.  Wir  dürfen  nicht  mehr  da  sein.  Über  uns 
hinweg  muss  die  Freiheit  kommen.  Nicht  wir 
mehr  befreien  die  Menschen,  sie  selbst  tun  es  auf 
unserem  Leib.  Das  Opfer  unseres  Lebens  ist  unsre 
letzte  Wahrheit  —  unsere  erste  Tat.  Wir  müssen 
dahingehen,  verschwinden  —  durch  das  Volk! 
DER  MANN:  Verschwinden  durch  das  Volk.  Die 
Welt,  aus  der  wir  kamen,  ist  versunken.  KLOTZ: 
Das  Opfer  unsres  Lebens  durch  das  Volk:  Das 
erst  ist  deine  Liebe!  Und  nur  dann  wird  unser 
Blut  in  ihnen  kreisen,  dann  erst  wird  unser  Herz- 
schlag im  Volke  ein  Riesenstoss  zum  göttlichen 
Geiste  sein.    DER  MANN:  Durch  unser  Opfer  wird 

91 


die  Welt  neu!  So  lauf  ich  mit  ihnen?  Rase  mit 
ihnen  durch  die  Strassen,  breche  Türen  auf? 
Schreie  mit  ihnen  „Hunger!"?  KLOTZ:  Du 
schreist  „Hunger!"  mit  ihnen,  und  du  weisst: 
Freiheit. 

NEUNTE  SZENE 
Vorige    /    Das  Volk  (draussen)   /  Später   die 
Frau  /Zwei  Gruppen  des  Volkes  /Der  Greis/ 
Der  Bucklige   /   Der  Krüppel  /  Ein  Junge 

DAS  VOLK  (draussen):  Hunger! 
(Die  Frau  bricht  herein,  hinter  ihr  und  um  sie  ein 
Knäuel  von  y o\k.  Im  Volk:  Junge  Burschen, 
Greise,  Männer,  der  Bucklige,  der  Krüppel 

und  die  beiden  alten  Gefangenen.) 
DIE  FRAU:  Verloren!  Verloren,  wenn  wir  nicht 
retten!  Die  Führer  sind  weich,  verhandeln.  Die 
Bürger  sind  in  der  Siadt:  in  allen  Ecken  stecken 
sie  mit  den  Führern.  Das  Volk  wird  verraten,  wie 
man  eine  Nuss  vom  Baum  schüttelt.  STIMMEN 
AUS  DER  EINEN  GRUPPE  DES  VOLKES:  Hier- 
her. Ihr  nach!  STIMMEN  AUS  DER  ANDERN 
GRUPPE  DES  VOLKES:  Warum  ihr  nach?  Wir 
kennen  sie  nicht!  STIMMEN  ADS  DER  ERSTEN 
GRUPPE:  Eine  Frau!  Die  weiss  immer  wo  es  Essen 
gibt!  STIMMEN  AUS  DER  ANDERN  GRUPPE: 
Ihr  seid  Opfer  bei  jedem  Verrat!  STIMMEN  AUS 
DER  ERSTEN  GRUPPE:  Ihr  seid  Opfer  bei  jeder 
Lüge!  DER  MANN;  Lüge  und  Verrat!  Ihr  seid 
mitten  drin!  EIN  GREIS  AUS  DEM  VOLK:  Was 
können  sie  uns  antun?  Wir  haben  nichts  zu  geben. 

92 


EIN  JUNGE  AUS  DEM  VOLK:  Wir  können's  uur 
besser  haben.  DER  KRÜPPEL:  Lüge  —  war  das 
erste  freundliche  Wort,  das  haben  wir  noch  nie 
gehört.  DER  BUCKLIGE:  Nie  gehört?  Wir  ha- 
ben nichts  anderes  gehört.  So  haben  sie  uns  immer 
gefangen !  D  E  R  J  U  N  G  E :  Es  ist  gleich.  Wir  haben 
nichts  zu  verheren !  D  E  R  G  R  E I  S :  Nichts  zu  ver- 
lieren! Du  Nachschwätzer!  Du  Lügner!  Alles, 
alles:  Das  Leben!  Das  Leben!  Das  Leben!  — 
Könnte  man  sich  endlich  doch  ausruhen!  DER 
MANN:  Ausruhen!  Ihr  sollt  ausruhen!  Die  Hände 
sinken  lassen,  sie  beschauen.  Nicht  in  gespanntem 
Zittern  warten  auf  den  nächsten  Pfiff  zur  Arbeit. 
DER  GREIS:  Und  leben?  DER  MANN:  Dann 
gerade  werdet  ihr  leben.  Aber  so  leben  die  Feinde 
von  euch! 

DERBUCKLIGE  (zu  Mann,  Klotz,  Frau):  Was 
tretet  ihr  uns  entgegen?  Was  wollt  ihr  von  uns? 
DAS  GANZE  VOLK:  Was  wollt  ihr  von  uns? 
DIE  FRAU:  Ah!  Misstrauen!  DER  MANN, 
KLOTZ:  Misstrauen !  ERSTERGEFANGENER: 
Halt,  es  sind  Kameraden!  Ich  bürge  für  sie.  Ihr 
kennt  mich.  Meine  Jahre  sind  im  Gefängnis  ge- 
blieben, für  euch.  Ihr  wisst  es.  DER  BUCKLIGE: 
Vergangenheit.  Das  gilt  nicht  mehr.  Wir  haben 
nichts  von  euren  Gefängnissen.  DER  KRÜPPEL: 
Ihr  seid  selbst  Bürger!  Ihr  seid  so  fern  von  uns 
wie  die  andern:  ihr  seid  gerad  so  glatt  und  lau 
wie  sie!  KLOTZ:  Lau?  Wer  ist  lau?  Du,  Volk, 
bist  weich  und  sie  machen  mit  dir  in  ihren  Hän- 
den was  sie  mögen!  DAS  VOLK:  Wir  wollen 
Leben!  Leben! 

93 


ZEHNTE  SZENE 
Vorige  /  Nauke 

NAUKE  (stolpert  herein  mit  einem  Pack  Papier  in 
der  HandJ:  Ich  habe  es!  Ich  habe  es!  Ich  habe  es! 
Ich  habe  Essen  für  jeden.  DAS  VOLK  (stürzt  auf 
ihn):  Flugblätter!  NAUKE  :  Ich  weiss  Essen  !  Ich 
weiss  gute  Leute!  Es  ist  für  jeden  da!  Wer  kommt 
mit  mir?  Hier!  (Er  wirft  die  Flugblätter  imters 
Volk^  auch  auj  den  Boden)  dass  ihr  wisst,  was  ihr 
tun  müsst!  (Volk:  leichtes  Getümmel  um  die  Flug- 
blätter.) DER  MANN:  Du  willst  sie  preisgeben! 
NAÜKE:  Ich  will  sie  retten!  KLOTZ  (zian  Volk): 
Glaubt  es  nicht!  Es  ist  nicht  wahr!  Ihr  werdet 
betrogen!  Sie  lügen  euch  an.  Nicht  einmal  das 
Essen^  das  sie  euch  versprechen,  werden  sie  euch 
geben!  Ich  weiss  es:  Ihr  rast  in  die  Sklaverei! 
DER  MANN:  Ich  beschwöre  euch,  haltet  nur  so- 
lang aus,  bis  ihr  seht,  dass  die  Bürger  logen! 
NAUKE:  Mit  mir.  Das  Leiden  ist  aus!  VOLK 
(Jubelgeschrei):  Leben!  (Nauke  ab.  Das  Volk 
um  ihn.,  stürzt  mit  ihm  hinaus.) 

ELFTE  SZENE 

Vorige  ohne  Nauke  und  das  Volk 

KLOTZ:  Er  führt  sie  zu  den  Bürgern.  Nun  ist  der 
Augenblick.  Jetzt  darf  unser  Leben  nichts  mehr 
sein.  Jetzt  unsere  Kraft  ins  Volk!  DER  MANN: 
Schnell,  sie  zurückhalten!  KLOTZ:  Wir  können 
nicht  mehr  zurückhalten.  Wir  müssen  die  ganze 
Stadt  umwerfen,  sprengen !     DER  MANN :  O,  wenn 

94 


sie  nur  ein  Wort  verhandeln,  ist  es  zu  spät! 
KLOTZ:  Es  darf  nicht  zu  spät  sein.  Jeder  einzelne 
von  ihnen  muss  eine  Sekunde  lang  nur  von  sich 
wieder  wissen.  Dann  ist  alles  gewonnen.  DER 
MANN:  Unser  Wille!  Herauf!  KLOTZ:  Millio- 
nenfach müssen  wir  uns  teilen,  und  jeder  Bluts- 
tropfen von  uns  muss  auf  einen  Menschen  geschleu- 
dert werden  und  ihm  Freund  sein,  DER  MANN  : 
Schnell,  ihnen  nach! 

(Klotz  und  der  Mann  ab.) 

ZWÖLFTE  SZENE 
Die  Frau 

DIE  FRAU  (alleinj:  Misstrauen.  —  Hunger.  — 
Die  Luft  um  mich  braust  von  Menschen,  um- 
krampft halten  sie  sich  keuchend  ineinanderge- 
bissen  im  Kampf.  Eine  Höhle  von  Brausen  ist  um 
mich.  Schwarzer  Wind  von  Nachtstimmen.  — 
Lärm,  Schreie.  Wie  heraus?  Zu  den  andern?  — 
Hört  ihr  mich?  Kann  ich  euch  ein  Wort  von  mir 
hinüber  durch  die  Mauern  werfen?  Kann  ich  mich 
tausendfach  durch  den  Stürm  zu  euch  hinwehen? 
—  Ah  —  hier  ist  eine  Zunge,  die  für  euch  redet! 
(Sie  hebt  eines  der  Flugblätter,  das  Nauke  zur  Erde 
Jallen  Hess,  auf.J  Papier,  Gedrucktes. 
Ein  Aufruf —  ah,  und  das  hilft?  Hilft  das?  Wissen 
sie  darnach,  wohin  sie  gehen?  f Liest J:  „Volk!  Die 
Stunde  deines  Glückes  ist  da!  Nimm  dir  deine 
Rechte.  Nimm  dir  selbst  die  Freiheit,  deren  du 
dich  würdig  fühlst."  (unterbricht  sich  im  Lesen): 
In  diesen  Buchstaben,  das  Schwarze  zwischen  dem 

95 


Weissen,  reckt  sich  dunkles  Grinsen.  —  Betrug! 
—  Da  müsste  stehen:  „Mensch!"  „Mensch"  — 
dann  hätte  es  mich  gestossen,  dann  würde  ich  es 
glauben!  „Mensch,  nimm  dir  selbst  die  Freiheit." 
Ich  seh  es,  ich  sehe,  was  da  steht  —  Betrug!  (liest): 
y,.  .  .  deinen  Gegnern  die  Hand  reichen  ...  sie 
sind  nicht  deine  Gegner  .  .  .  Arbeit  aufnehmen  .  .  . 
Heute  abend  grosse  Verteilung  von  Lebensmitteln. 
.  .  .  Zeichen  der  Versöhnung  .  .  .  der  Kampf  ist 
beendet  ..."  fsie  knüllt  den  Zettel  zusammen):  Be- 
trug! Und  ich  bin  inmitten,  während  hunderttau- 
send Hände  diese  Blätter  ergreifen.  Diese  Woi'te 
stürzen  in  müde,  widerstandslose  Augen,  Männer 
sprechen  sie  zu  Frauen,  Frauen  schreien  sie  als 
Hoffnung  weiter!  O,  nur  helfen,  helfen,  dass  ein 
Wille  mit  Händen  und  brennenden  Flammen  über 
dieses  Papier  hinsaust  und  die  Lüge  herausätzt, 
eh  sie  die  Adern  der  Menschen  frisst!  Mensch! 
Mensch  nimm  dir  selbst  die  Freiheit! 
Mensch,  du  bist  im  Dunkel.  Die  Finsternis  ist 
deine  Wohnung:  Du  öffnest  den  Mund  heraus  aus 
deiner  schwarzen  Höhle,  um  nur  zu  fressen,  und 
du  schluckst  einen  Tropfen  Licht  ein.  Du  ergiesst 
dein  Geschlecht  in  der  bittersten  Nacht,  und  ein 
Flammenlicht  streicht  an  dir  vorbei!  Mensch,  dein 
Geist  fliegt  im  Licht!  Ich  rufe  deinen  Geist!  Mensch, 
ich  rufe  deine  Liebe!  Mensch,  fahr  aus  dir  auf! 
Höre  mich,  Arbeiter!  Du  schlingst  täglich,  du 
weisslich  zitternder  Wurzelbaum,  deine  Arme  um 
die  Maschine;  Arbeiter, Geist  in  dir,  du  bistMensch! 
Du  presst  dich  täglich,  wie  ein  kranker  Zweig 
über  den  Tisch,  und  rechnest ;  Mensch,  lass  deine 

96 


Bücher  vor  dir  versinken!  Du  stehst  täghch  an 
einem  Pult  und  redest  zu  den  Armen,  Mensch, 
hauche  dein  Licht  in  das  Wort  für  die  Brüder. 
Männer,  Frauen,  Arbeiter,  Verfolgte,  Getriebene, 
ihr  im  Dunkel,  in  den  Fabriken,  in  den  Stuben, 
am  Hunger  kaum  dass  ihr  euch  besinnt,  herauf 
aus  dem  Dunkel.  Ich  rufe  zu  euch.  Fliegt  durch 
das  Licht.  Ihr  seid  das  Licht.  Herauf  gegen  das 
Dunkel.  Brüder,  Schwestern!  Empörung  gegen 
das  Dunkel!  Empörung!  Freiheit!  Menschen!  Frei- 
heit I  fSie  stÜ7'zt  niede?\J 


DREIZEHNTE  SZENE 
Die  Frau  /  Der  Mann 

DEB  MANN  ft7ntt  auf,  von  rechts):  Geliebte,  meine 
Seele,  mein  Leib,  meine  Freundin!  Lass  mich  dich 
halten,  und  fest  an  mich  tun.  Ich  streichle  dich. 
Ich  lege  meinen  Kopf  auf  dich  und  höre  deinen 
Atem.  O  sprich  zu  mir.  Du  bist  mit  mir  mein  ganzes 
Leben  gegangen,  als  ich  aufgewacht  bin.  Du  hast 
den  Kopf  zurückgeworfen,  und  über  die  Menschen 
geschaut,  wenn  ich  schwach  wurde.  Du  warst 
trotzig,  dein  Trotz  hat  mich  vorwärts  getrieben, 
wenn  ich  klein  war.  Du  warst  fest,  ob  du  auch 
krank  und  matt  warst,  wenn  ich  schwankte.  Du 
hast  geglaubt,  und  ich  habe  geglaubt.  Mein  Lieb- 
stes, mein  Mensch,  meine  Schwester,  meine  Frau, 
meine  Kameradin!  Jetzt  drück  dich  an  mich,  jetzt 
gib  mir  deine  zärtliche  Hand.  Meine  Stunde  ist 
da.   Unsere  Stunde  ist  da.  Ich  werde  hin  müssen, 

7    Rubiner,  Die  Gewaltlosen  97 


mich  aufgeben  im  Blut.  Sterben.  Ich  weiss  e>. 
Nichts  andres  hilft  mehr.  Der  Feind  ist  mitten 
unter  uns.  Mitten  in  der  Stadt.  Ich  stosse  überall 
auf  ihn,  ich  kann  ihn  nicht  greifen,  er  ist  unsicht- 
bar. Das  ist  nicht  mehr  Verrat!  nicht  mehr  ein 
Einzelner  ist  abgefallen.  Sie  siegen!  Sie  zersetzen 
die  Stadt;  sie  durchdringen  die  Leiber  und  die 
Willen  und  lähmen  siel  Das  ist  Untergang.  DIE 
FRAU:  Mein  Liebster.  Das  ist  auch  meine  Stunde. 
Was  tust  du?  DER  MANN:  Die  Stadt  oder  ich! 
Und  vielleicht,  \venn  ich  mein  Leben  zersprenge, 
brechen  sie  auf  mit  mir,  unsere  Brüder  von  der 
Er^veckung  opfern  sich  ganz  hin;  und  ich  weiss, 
unser  Atem  wird  in  das  Volk  strömen,  und  sie 
alle  zu  freien  Menschen  emporbrennen!  DIE  FRAU: 
Du  willst,  und  ich  will ! 


VIERZEHISTE  SZENE 

Vorige  /  Der  Kranke 

Der    kranke   Schiffsgefangene    tritt  aus  der 
Versenkimg  auf. 

DER  SCHIFFSGEFANGENE:  Endhch  finde  ich 
euch.  Aus  dem  Heer  der  Bürger  schicken  sie  mich 
zu  den  Sternbrüdern.  DER  MANN:  Du  bist  es? 
Du  sahst  uns  am  Schiff,  wusstest  du  darnach  nicht, 
dass  wir  nicht  maklern  und  nicht  verraten?  Die 
Bürgerbotschaft  ist  unseren  Ohren  ein  hohler  Schall. 
Du  warst  in  unsrer  Gemeinschaft.  Warum  tratest 
du  zu  den  Bürgern,  den  Feinden?  DER  SCHIFFS- 

98 


GEFANGENE:  Ich  trat  nicht  zu  den  Bürgern.  Ich 
gehöre  zu  euch.  Ich  bin  von  den  Kleinen,  nichts 
an  mir  fiel  den  Misstrauischen  auf.  Ich  bringe 
euch  Gutes:  Drüben  die  Armee  der  Feinde  ist 
nicht  mehr  fest,  die  ist  nicht  mehr  ein  drohen- 
der Wald  mit  den  zahllosen  Stahlbäumen.  Das 
Heer  wird  schwach.  Tausende  der  Frauen  aus 
dem  Volk  der  Bürgerarmee  rufen  heute  ihren 
Soldaten  das  Wort  nach :  „  Menschen ! "  Die  Männer 
recken  die  Fäuste  zur  Empörung,  und  man  kann 
sie  nicht  mehr  niederschlagen.  Redner  stehen  plötz- 
lich vor  den  Massen  und  rufen  Hohn  und  War- 
nung über  die  Waffen.  Das  Heer  der  Bürger  ist 
schwankend.  Wir,  die  im  stillen  ihnen  Zweifel 
einflüstern,  haben  Freunde.  Ihr  in  der  Stadt  habt 
draussen  Freunde.  Hört  mich :  Sammelt  alle  Kraft, 
die  ihr  hier  noch  findet,  macht  einen  Ausfall.  Ein 
grosser  Angriff  von  euch,  der  letzte  Tag  der  Ge- 
walt, und  ihr  habt  den  Sieg  über  die  Bürger! 
DER  MANN:  Du  kamst  als  Freund.  Aber  du  irrst: 
Wir  bleiben. 

DER  SCHIFFSGEFANGENE:  Ihr  bleibt?  Ihr  seid 
zu  schwach?  Das  meint  ihr  nur.  Ich  sag  euch  dies: 
Auch  die  schwächste  Macht,  wenn  ihr  sie  jetzt 
entschlossen  aus  der  Stadt  vorwärts  treibt,  hat 
den  Sieg  über  dies  Heer.  DER  MANN:  Wir  bleiben . 
DER  SGHIFFSGEFANGENE  fzur  FrauJ:  Hilf  du 
mir.  Die  Frauen  drüben  sind  nicht  aufzuhalten  in 
ihrem  Ausbruch.  DIE  FRAU:  Die  Mauern  fallen. 
DER  SCHIFFSGEFANGENE  (zur  FrauJ:  Sie  hal- 
ten das  Heer  zurück.  Ihr  miüsst  sie  bezwingen. 
Eifere  du,  dass  eure  Männer  kämpfen.    DIE  FRAU: 

f  99 


Ich  rief  sie.  Ich  weiss,  dass  es  andere  Mächte  gibt, 
als  den  Sieg.  Ich  rufe  nicht  zum  Kampf.  DER 
SCHIFFSGEFANGENE:  Ihr  wollt  nicht  kämpfen? 
Dann  kommt  zu  uns.  Ruft  die  Brüder  zusammen. 
Alle  müssen  herüber  zu  uns.  Verlasst  die  Stadt  in 
Verkleidungen  durch  den  unterirdischen  Gang. 
Mischt  euch  unter  das  Volk,  dringt  ins  Heer  — 
sendet  Angst  und  Verzweiflung  unter  das  Volk 
drüben  und  in  die  Herzen  der  Soldaten.  Ihr  könnt 
das.  Macht,  dass  sie  zerfallen,  dass  sie  unterein- 
ander sich  morden.  DER  MANN:  Nicht  das  ist 
unser  Wille.  Wir  bleiben.  DER  SCHIFFSGEFAN- 
GENE: So  hört  mein  letztes  Wort,  vom  Freund,  den 
ihr  brüderlich  gerettet  habt.  Kommt,  kommt!  Und 
sei  es  nur,  um  die  Stadt  zu  verlassen.  Wir  ver- 
stecken euch.  Wir  retten  euch.  Bei  uns  drüben 
jenseits  der  Wälle  und  der  Gräben,  auf  den  wei- 
ten Ländern,  seid  ihr  gerettet.  Hier,  inmitten  der 
Tatenlosigkeit,  findet  ihr  den  gewissen  Tod,  mit- 
sammen dem  Tod  der  Stadt.  DER  MANN:  Unsere 
Tat  ist  anders  als  die  der  Faust.  Unsere  Tat  ist: 
Zu  bleiben.  DER  SCHIFFSGEFANGENE:  Ich 
kenne  nur  eure  Bruderliebe,  ich  weiss  nicht,  wie 
stark  ihr  seid.  Ich  bin  nur  Einer  aus  den  Vielen, 
ich  habe  euch  Bericht  zu  sagen.  Mehr  vermag  ich 
nicht.  Aber  dass  ihr  nicht  kämpft,  dass  ihr  bleibt, 
ist  euer  Verderben!  DIE  FRAü:  Geh  zurück  und 
sag  ihnen,  dass  wir  nicht  kämpfen.  Sag  es  jedem, 
der  noch  lebendig  hört.  Ich  weiss:  dies  wird  grösser 
sein  als  eine  Schlacht.  DER  MANN:  Sag  ihnen, 
dass  du  uns  den  Tod  gezeigt  hast.  Wir  bleiben. 


100 


FÜNFZEHNTE  SZENE 
Vorige  /  Anna 

ANNA  ftri'tl  auf):  Freunde,  es  beginnt!  Die  ersten 
Fabriken  stehen  still!  DER  MANN:  Endlich!  (Zum 
Schiß sgejangenen:)  Eile!  Schnell  du  zu  den  Deinen. 
Ruf  ihnen  zu  von  uns:  „Die  Arbeit  ruht!"  Nehmt 
eure  Hände  von  den  Maschinen  und  streckt  sie 
uns  herüber!  —  Auf  der  ganzen  Erde,  bald,  um- 
armen sich  Brüder!  —  Nun  mehr  als  je,  bleiben 
wir.  Es  ist  der  letzte  Feuergang:  Hindurch! 

Ende  des  dritten  Aktes. 


lOI 


VIERTER  ART 

Schauplatz  wie  im  dritten  Akt 
ERSTE  SZENE 

Nauke  /  Der  Führer  der  Bürger  /  Die  drei 

Bürger 
Nauke  tritt  auf.  Mit  ihm  der  Führer  der  Bür- 
ger und  drei  andere  Bürger. 

NAUKE  fzu  den  Bürgern):  Ihr  werdet  es  sehen, 
ihr  werdet  es  glauben!  Ich  sag  es  euch!  Ich  besitze 
die  grosse  Macht,  ich  befehle  dem  Willen.  Ihr  seht 
mir  das  nicht  an?  Ihr  zweifelt  an  mir?  Ihr  haltet 
mich  für  einen  einfachen  Mann?  Ich  sage  euch, 
ich  kann  es,  ich  hab  es  gelernt;  ich  weiss,  wie 
man's  macht,  ich  war  oft  genug  dabei  auf  unserer 
Fahrt.  Nur  gut  wollen,  und  man  hat  Jeden.  Das 
Volk?  Ihr  wollt,  dass  das  Volk  nachgibt,  die  Arbeit 
aufnimmt,  und  dass  sie  milchzahm  wie  Kälber 
hinter  euch  herlaufen !  ?  Sofort.  Ich  streife  mir  die 
Ärmel  auf,  ich  rufe  an,  ich  beschwöre  —  und  eine 
Minute  später  habt  ihr  s!  DER  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Wir  verstehen  das  nicht.  Wenn  du  tun 
kannst,  wie  du  redest,  wirst  du  belohnt.  Aber  es 
ist  das  letzte  Mal,  dass  wir  auf  dich  hören.  Wir 
irren  seit  Stunden  durch  die  Stadt,  und  wir  wissen 
nicht,  warum  wir  nichts  ausrichten.  VV^ir  haben 
den  Besitz,  wir  haben  die  Macht,  wir  haben  die 
Waffen,  wir  können  alle  zugrunde  gehen  lassen, 

102 


die  Widerstand  leisten,  —  und  wir  sehen  nicht, 
wohin.  Der  Widerstand  rückt  breiig  weich  zurück. 
Wir  sind  am  Ende.  Jetzt,  jetzt  müssen  wir  siegen, 
sonst  haben  wir  ums  Nichts  gekämpft. 

ZW^EITE  SZENE 

Vorige  /  Der  Mann  /  Die  Frau 

Der  Mann  vnd  die  Frau  treten  unbemerkt  auf. 

DER  MANN  fün  Hintergrund):  Ah,  —  dort,  die 
Bürger !  Endlich,  endlich  zu  greifen !  Endlich  ihnen 
gegenüber!  NAUKE  (zu  den  Bür^gernJ:  Bürger, 
ich  helf  euch,  wie  ich  es  versprach.  Und  nun  bin 
ich  Gouverneur  und  Sohn  des  Geistes!  (Macht 
wichtige  Gebärden:)  Auf,  Volk,  höre  mich!  Ich  be- 
fehle deinem  Geiste !  Hier  stehe  ich,  ein  Sohn  des 
Geistes,  und  ich  gebiete  dir  mit  meinem  Willen! 
(Wichtige  Gebärden  im  Kreise.  —  Stille.  — J  Alles 
bleibt  still.  Gutes  Zeichen.  —  Auf,  Volk,  tu,  was 
ich  dir  sage  und  was  ich  will.  Ich  beschwöre  dich 
bei  Totenkopf  und  gekreuzten  Knochen:  Folge 
mir!  Hier  stehen  deine  Wohltäter!  Sie  sind  reich, 
und  können  dich  beschenken,  sie  sind  mächtig  und 
können  dich  in  ihre  Dienste  nehmen,  sie  sind  be- 
waffnet und  können  dir  das  Leben  lassen!  Auf, 
Volk,  Geist  des  Volkes,  gehorch  ihnen,  folge  ihnen! 
Erscheine,  erscheine!  DER  MANN  (tiitt  hervor): 
Schweig  mit  deinem  Kram.  NAÜKE:  Ich  wusste 
es!  Gewonnen,  sie  kommen!  Das  ist  der  Wille. 
DER  MANN:  Das  ist  nicht  der  Wille,  das  ist  Miss- 
verstand! Ein  Verräter  weiss  nie  das  Ziel,  das  die 
Herzen  der  Menschen  emporreisst.   Geh !  was  du 

io3 


treibst,  ist  Jahrmarkt!  FÜHRER  DER  BÜRGER:Wer 
bist  du?  Bist  du  zupacken?  DER  MANN:  Ihr  da, 
Bürger!  Ihr  steht  in  euren  Masken,  als  wäret  ihr 
erfundene  Maschinen,  um  die  Welt  schauern  zu 
lehren!  Was  ihr  seid,  wissen  wir.  Bomben  tragt 
ihr  auf  dem  Rücken,  und  wenn  ihr  sie  gegen  uns 
werft,  springt  nur  diese  Erde  entzwei  in  ärmlichen 
Schutt  und  ewige  Verwesung.  Ihr  könnt  uns  mor- 
den; ihr  erstickt  nicht  den  ewigen  Menschen! 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  Bist  du  die  Macht,  die 
in  der  Stadt  gegen  uns  wirkt,  die  wir  nicht  sehen 
und  nicht  finden  können?  DER  MA1\N:  Die  Macht? 
Die  Macht  seid  ihr!  Ich  bin  die  Machtlosigkeit! 
Wir  sind  die  heilige  Machtlosigkeit,  in  die  ihr 
ohne  Halt  hineinstürzt,  und  je  mebr  ihr  presst  und 
mordet,  um  so  mehr  umhüllt  euch  unsere  göttliche 
Machtlosigkeit  und  ihr  gleitet  eine  glatte  Schräge 
hinab  in  die  Höhle,  aus  der  ihr  nicht  mehr  her- 
ausfindet! Wer  seid  ihr?  Schlagt  eure  Masken  zu- 
rück, die  finsteren  Masken,  die  ihr  zum  Schutz 
vor  uns  tragt!  Herunter  mit  euren  widerlichen 
Grauens-Masken,  Bürger,  dass  man  euch  ins  Ge- 
sicht sieht.  Herunter!  Und  man  sieht:  aus  eurer 
Furcht-  und  Schreckensrüstung  quillt  das  ganz  ge- 
wöhnliche, platte,  niedrig  fleischige  Bürgergesicht ! 

DRITTE  SZENE 

Vorige 
Es  treten  auf:  Der  Gouverneur,  Klotz,  Anna, 

Offizier,  die  beiden  alten  Gefangenen. 
FÜHRER  DER  BÜRGER:   Du  sprichst  als  Feind. 
Ich  weiss  nicht,  warum  du  feindlich  bist,  —  was 

104 


wollt  ihr?  Wir  verstehen  es  nicht.  Wir  wollen 
eure  Freundschaft.  W^ir  wollen  euch  glücklich 
machen!  DER  MANN:  Ihr  hört  in  uns  nur  den 
Feind,  weil  ihr  uns  nicht  versteht.  Ihr  versteht 
uns  nicht,  weil  ihr  nicht  wissen  wollt,  dasswirdie 
ewige  W^ahrheit  des  Lichts  in  alle  Zukunft  sind ! 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  Ah,  nur  ihr  seid  die 
Wahrheit,  und  wir  sind  nichts.  Ist  das  eure  Ge- 
rechtigkeit? DER  MANN:  Die  höchste  Gerechtig- 
keit, göttliche  Erden-Gerechtigkeit!  Wir,  die  Söhne 
der  Erde,  wir,  das  Volk,  sind  die  Wahrheit.  Und 
ihr,  nein,  ihr  seid  es  nicht,  ihr  seid  die  Gewalt, 
und  die  Bestechung,  und  die  Knebelung,  und  der 
Verrat,  und  die  Maske  der  Finsternis!  FÜHRER 
DER  BÜRGER:  Wir  wollen  euch  glücklich  machen. 
Und  euer  Glück  ist  das  nichts?  DER  MANN: 
Nichts!  Wir  brauchen  euer  Glück  'nicht.  Es  gibt 
kein  Glück.  Es  gibt  nur  unser  Leben,  und  unsere 
Arbeit  und^ unsere  Schöpfung.  Das  Glück  ist  euer 
Köder.  Glück,  das  habt  ihr  erdacht,  um  uns  zu 
kaufen!  FÜHRER  DER  BÜRGER :  Nenn  es  kau- 
fen —  wir  sagen  Vertrag.  DIE  ANDEREN  BÜR- 
GER: Vertrag!  FÜHRER  DER  BÜRGER:  Fordert. 
Wir  geben  euch.  Wir  machen  euch  reich  und  satt. 
Wir  geben  euch  Amter  und  Wagen,  wir  zahlen 
euch  zu  und  geben  euch  Macht.  DIE  ANDEREN 
BÜRGER:  Ämter!  Macht!  DER  MANN:  Was 
wollt  ihr  dafür?  FÜHRER  DER  BÜRGER:  End- 
lich, dieses  Wort!  —  W^ir  wollen  das  Volk.  Sprecht 
zum  Volk.  Macht,  dass  es  ist,  wie  es  früher  war, 
wie  es  immer  war!  Dann  hat  es  das  Glück.  DER 
MANN:  Wir  dürfen  nicht.     FÜHRER  DER  BÜR- 

io5 


GER:  Dürft  nicht?  Ihr?  Und  seid  doch  die  Führer! 
DER  MANN:  Wir  sind  nicht  die  Führer.  FÜHRER 
DER  BÜRGER:  Ihr  seid  nicht  die  Führer?  — 
Dann  —  wo  sind  die  Führer?  DIE  ANDEREN 
BÜRGER:  Eile.  Die  Führer! 

DER  MANN:  Irgendwo  gab  es  einmal  Führer.  Es 
gibt  keine  Führer  mehr.  Wir  sind  Menschen.  Wir 
sind  vom  Volk.  Ihr  wollt  uns  kaufen?  Ihr  kauftet 
nur  Einzelne,  Wesen,  die  absterben,  wie  ihr  im 
Moment,  da  ihr  sie  kauft.  Nie  werdet  ihr  das  Volk 
kaufen!  FÜHRER  DER  BÜRGER:  Und  wenn  ihr 
die  Führer  nicht  seid,  wenn  Führer  nicht  mehr 
sind  —  was  will  das  Volk?  DER  MANN:  Das 
Volk  will  leben.  Leben  miteinander.  Freiheit.  Neue 
Völker  zeugen.  Die  Erde,  auf  der  wir  stehen,  zu 
einem  einzigen  Leib  machen,  zum  Leib  des  Him- 
mels, der  empfängt  und  gebiert,  der  seine  Nahrung 
strömt  für  alle,  die  er  gebar.  FÜHRER  DERB  Ü  R- 
GER:  Schwärmt.  Aber  wir  haben  die  Macht. 
DIE  ANDEREN  BÜRGER  :  Macht!  DER  MANN: 
Ich  schwärme  nicht  mehr.  Die  Wirklichkeit  hat 
begonnen  —  die  Macht  ist  aus.  Wir  wollen  die 
Macht  nicht,  wir  brauchen  die  Macht  nicht  mehr. 
Eure  Macht  hat  verloren.  Wir,  die  Machtlosen, 
wir,  die  nichts  haben  als  uuser  Leben,  unsern 
Willen,  unsere  Hände,  Millionen  Menschenhände, 
wir  kneten  schon  an  unserer  neuen  Erde  —  und 
ihr  droht  uns  die  Macht?  Ich  zerblase  eure  Macht, 
eure  Rüstungen,  eure  schweren  Fleischklumpen, 
wir  zerblasen  eure  Drohung !  FÜHRER  DER 
BÜRGER:  Das  sind  Fremde.  DERMANN:Euch 
ist  jeder  fremd,  der  die  Zukunft  schafft.   Ihr  seid 

io6 


Einzelne,  ihr  wollt  die  ruchlose  Macht  tiir  den 
Einzelnen.  Wir  sind  das  Volk,  wir  wollen  nur  das 
Leben. 

FÜHRER  DER  BÜRGER:  Feindschaft  also?  DER 
MANN:  Eure  Feindschaft  zerstört  euch  selbst. 
Eure  Feindschaft  lebt  nur  noch  bei  euch;  uns  ist 
sie  vergangen,  uns  ist  sie  verweht  und  vergessen, 
wie  eure  Giftgase,  die  einmal  noch  unsere  Freunde 
morden  konnten,  aber  die  dann  in  die  Luft  zer- 
strömten und  rück  auf  euch  euer  eigenes  Gewissen 
zerätzten.  Ihr  seid  uns  nicht  mehr  Gefahr.  Wir 
haben  das  neue  künftige  Leben  uns  selbst  abzu- 
kämpfen. Zurück  mit  euch  in  die  Reihen  eurer 
Auflösung,  hinab  mit  euch  in  die  Dunkelheit  eurer 
Gewalt.  Vernichtet  seid  ihr.  Geht !  DIE  ANDE- 
REN BÜRGER:  Kampf!  DER  MANN:  Zu  spät! 
(Die  drei  Bürger  tauchen  in  die  Versenkung.) 
DIE  FRAU,  ANNA,  GOUVERNEUR,  KLOTZ, 
OFFIZIER,  DIE  BEIDEN  ALTEN  GEFANGE- 
NEN (jubelnd):  Zxm^diÜ  FÜHRER  DER  BÜR- 
G  ER  (zu  Nauke):  Du  vermochtest  nichts.  Prahlerei. 
Du  hast  gelogen.  Du  hast  uns  betrogen!  (Zu  den 
Brüdern:)  Ihr  kamt  selbst  vom  Bürger  —  nun  be- 
kämpft ihr  den  Bürger!  Aber  hütet  euch  vor  der 
vStunde  eures  Lebens,  wo  ihr  hinter  den  Kampf 
blickt  und  erkennen  werdet,  dass  der  Sturz  der 
Bürger  euer  eigener  Fall  ist!  DER  MANN:  Das 
ist  nicht  Drohung,  das  ist  Hoffnung!  Geht  eure 
Vernichtung  nur  über  unsern  eignen  Sturz?  So 
reissen  wir  unser  Leben  heraus  aus  dieser  Welt! 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  Die  Zeit  reisst  ihr  mit 
den  Wurzeln  aus  der  Erde!     DER  MANN:  Deine 

107 


Zeit  ist  verwest!  Eine  neue  Ewigkeit  beginnt! 
FÜHRER  DER  BÜRGER:  Ihr  lehrt  uns  Gewalt- 
losigkeit  —  damit  habt  ihr  alle  Gewalt  der  Welt 
gegen  euch!  Stirb  in  deiner  neuen  Ewigkeit!  (Den 
andern  Bärgern  nach.  Ah.  Nauke  bleibt.) 

VIERTE  SZENE 

Vorige  ohne  den  Bürger  und  die  drei  Bürger 

DER  MANN:  Die  Gewalt  gegen  uns  —  die  letzte 
Gewalt!  NAUKE  (hinter  den  Bürgern  herj:  Ich 
verstehe  nicht.  Auf  dem  Schiff  ist  es  immer  ge- 
gangen. So  bleibe  doch,  so  höre  doch.  Ich  versuch 
es  noch  einmal  —  früher  ist  es  doch  immer  ge- 
glückt! —  Er  ist  fort!  VV^as  ist  denn  das?  Was 
mach  ich  denn  ?  Ich  verstehe  nicht !  f Erblicht  die 
Brüder. J  Ah,  ihr!  Sagt  mir,  wie  kommt  es,  dass 
ich's  nicht  traf?  Ich  fühlte,  wie  mein  Wille  an  die 
Luft  prallte  und  zerbrach.  Was  geschah  ?  Ich  ver- 
steh nicht.  Ich  tat,  was  wir  auf  dem  Schiffe  taten, 
und  diesmal  ging  es  nicht!  Sagt  mir!  —  DIE 
FRAU:  Uns  fragst  du  ?  Du  ?  Ein  Verräter  1  NAUKE: 
Ah  —  ja!  Ich  vergass!  Ihr  nennt  mich  Verräter. 
Aber  wenn  ich  tue  wie  ihr  —  ist  es  dann  nicht 
gleich,  wozu?  KLOTZ:  Nein,  es  ist  nicht  gleich. 
Du  nahmst  unsere  Worte  —  aber  ohne  unser  Ziel 
sind  sie  tote  Leichenhüllen  —  und  dientest  mit 
ihnen  den  Feinden !  Verräter !  NAUKE:  Verräter ! 
—  Verräter!  So  leicht  wird  das  gesagt.  Verräter? 
Aber  ich  verstehe  nicht!  DER  GOUVERNEUR: 
Was  wir  in  Gemeinschaft  tun  müssen  für  alle,  in 
höchster  Liebe  und  in  der  Hingabe  des  Herzens 

io8 


und  des  Lebens,  das  tatest  du  allein,  als  Einzelner, 
aus  Machtlust  und  Betrug.  Um  Lohn.  F'ür  die 
Gewalt !  Darum  Verräter !  N  A  U  K  E :  Ich  verstehe 
nicht.  Ich  tat  wie  ihr.  Wo  ist  der  Betrug?  (Sieht 
auf  die  beiden  alten  Gefangenen)  Sind  die  beiden 
Alten  mehr  als  ich?  (Sieht  auf  den  Offizier)  Ist 
der  Junge  stärker  als  ich?  (Auf  Anna)  Bei  der 
lag  ich  —  ist  die  grösser  als  ich?  Ihr  sagt,  ich  ein 
Verräter?  Ah,  es  wird  klar,  ihr  habt  mich  heim- 
lich umstellt,  ihr  habt  mich  in  eine  Falle  gelockt, 
um  mich  schwach  zu  machen,  um  mir  mein  Echo 
zu  zerschneiden,  um  mich  blosszustellen!  Ich  Be- 
trug!? Ihr  seid  die  Betrüger!  Ihr  habt  vor  mir  ge- 
gaukelt und  habt  mich  glauben  lassen,  auch  ich 
könnte  wie  ihr.  Betrüger!  Verräter,  Verräter  — 
ihr!  Feinde  sagt  ihr?  Den  Feinden  dien  ich?  Den 
Bürgern?  Und  ihr?  —  ihr  Lügner!  Bürger  seid  ihr, 
ihr  selbst!  Bürger!  Ausbeuter.  (Zuni^Mann:)  Du 
Du  bist  ein  Bürgersöhnchen!  (Zu  Klotz:)  Du  bist 
ein  Geheimredner  und  treibst  Volksschacher! 
(Zum  Gouverjieur:)  Du  bist  ein  ehemaliger  Gou- 
verneur —  das  kannst  du  nie  vergessen !  Ihr  habt 
mich  verlockt,  ihr  habt  mich  betrogen,  ihr  habt 
mich  um  mein  frohes  Leben  gebracht.  Ich  ver- 
fluche euch.  Ich  hasse  euch!  Ihr  sollt  es  zahlen! 
Volk,  Volk,  hier  sind  deine  Feinde,  hier  sind 
deine  Ausbeuter,  hier  sind  die  Bürger.  Die  Betrü- 
ger. Die  Verräter.  (Er  stürzt  hinaus.  Von  draussen:) 
Volk,  Volk!  Greif  die  Betrüger! 


109 


FÜNFTE  SZENE 

Vorige  ohne  Nauke 

ERSTER  ALTER  GEFANGENER:  Einmal  war  er 
ein  Kamerad !  DER  MANN :  Waren  wir  selbst  nicht 
damals  in  Verwesung,  Grab,  Irre?  KLOTZ:  Das 
Gewesene  ist  abgefallen  wie  der  alte  Leib  aus  der 
Vergangenheit.  Heut  sind  wir  sehnig.  Nicht  ein- 
mal Verzweiflung  treibt  uns  heut  mehr.  Wir  haben 
die  Gewissheit.  Heut  gilt  es  unser  Letztes,  unsern 
Willen,  und  das  höchste  Wunder  oder  den  Unter- 
gang! ERSTER  ALTER  GEFANGENER  (^/aw- 
schetidj :  Sie  kommen.  Das  Volk.  Sein  Puls  beginnt 
zu  schlagen! 

SECHSTE  SZENE 

Vorige  /  Volk  /  Der  junge  Mensch 

Einige  vom  Volk  kommen:  Ich  friere  heute.  — 
Ich  arbeite  nicht  weiter.  —  Nein,  ich  rühre  keine 
Hand  mehr!  JÜNGER  MENSCH  f stürzt  auf): 
Eine  Zeitung,  ich  will  eine  Zeitung  haben!  Ich 
habe  endlos  lange  keine  Zeitung  mehr  gesehen ! 
W^er  hat  eine  Zeitung?  ERSTER  ALTER  GE- 
FANGENER: Was  soll  jetzt  eine  Zeitung?  JUNGER 
MENSCH:  O  du  begreifst  nicht!  Ich  muss  sehen, 
was  in  der  Welt  vorgeht!  ERSTER  ALTER  GE- 
FANGENER: Hier  unter  euch  geht  am  meisten  vor! 
Jünger  MENSCH:  Wir  wissen  das  nicht.  Die 
Gerüchte  sausen  wie  die  W^olken  über  unsere  Köpfe 
hin.  Einige  sagen,  die  Bürger  sind  mitten  unter 
uns  und  haben  unsichtbar  jeden  Punkt  der  Stadt 

110 


besetzt,  um  uns  alle  niederzumachen.  Dann  heisst 
es  wieder,  wir  hätten  Beistand  bekommen:  eine 
Gemeinschaft  von  Mannern  und  Frauen,  die  keiner 
kennt,  seien  da.  Sie  bringen  Licht  und  Heizung 
und  Essen,  soviel  man  nur  braucht  —  Brot!  Und 
dann  haben  sie  unendliche  Mengen  Munition  und 
neue  Waffen,  mit  denen  man  die  grössten  Heere 
niederschlägt.  DER  MANN:  Brot,  sagst  du,  hätten 
die  Brüder.  JUNGER  MENSCH:  Ja,  die  Brüder, 
das  sind  sie!  GOUVERNEUR:  Und  Waffen? 
JUNGER  MENSCH:  Wüssten  wir  nur,  wo  wir  zu 
ihnen  stossen  könnten,  wir  wären  gerettet:  Essen 
und  Waffen!  KLOTZ:  Bist  du  sicher,  dass  ihr 
mit  den  Waffen  über  die  Bürger  siegen  würdet? 
JUNGER  MENSCH:  Wir  sind  am  Zusammenfall. 
Schlimmer  wird  es  nicht. 

.    SIEBENTE  SZENE 
Vorige  /  Greis  /  Volk 

GREIS  (stürzt  auf,  mit  ihm  Volk):  Waffen  !  Waffen  1 
IrgendwcPsollen  Waffen  sein!  Die  Bürger  sind  in 
der  Stadt.  Um  uns  rückt  die  schwarze  Mauer  von 
Stahl  und  Gas  heran  und  würgt  uns  zusammen! 
JUNGER  MENSCH:  Weisst  du  nicht,  wo  Waffen 
sind?  Ich  weiss  es  nicht! 

ACHTE  SZENE 

Vorige  /  Das  ganze  Volk  kommt  /Junge/ 

Alte  /  Der  Bucklige  /  Der  Krüppel 

JUNGER  MENSCH  (zum  Volk):  Wir  finden  sie 
nicht.  Es  ist  nur  ein  Gerücht.   Die  Brüder  sind 

III 


nicht  da.  GREIS:  Es  gibt  keine  Waffen,  VOLK 
ffVehgeschreiJ:  Untergang!  JUNGER  MENSCH: 
Es  gibt  kein  Brot!  VOLK:  Hungertod!  STIMMEN 
AUS  DEM  VOLK:  Alles  zu  Ende!  DER  RUCKLIGE: 
Es  lohnt  nichts  mehr.  Wir  sterben  doch.  Verrecken 
vor  Hunger  oder  werden  erschlagen.  DER 
KRÜPPEL:  Dann  sterben  wir  lustig!  Die  Weiber 
sollen  lachen,  da  erstickt  sich's  leichter  in  der  Lust ! 
DIE  FRAU:  Der  Zerfall  ist  im  Volk.  Bin  ich  das, 
bist  du  das,  waren  wir  das?  O  armes,  lebendes 
Geschwür,  das  verwesend  von  der  Erde  abblättert ! 
Rann  ich  noch  helfen?  DER  MANN:  Verfaulung. 
Ganz  tiefer  Sturz  —  und  ich  sehe  den  Aufstieg. 
Wir  können  helfen.  Neues  Blut  in  sie.  Unser  Blut! 
fZu  Klotz:)  Hilf  auch  du!  (Zum  Volk:)  Freunde, 
heute  feiern  wir!  KLOTZ:  Alle  Arbeit,  Brüder, 
alle  Arbeit  liegt  still!  VOLK  (Gelächter.  Plötz- 
licher Jubel.  Drängt  hin  und  her):  Alle  Arbeit  still. 
—  Wir  feiern  schon  lang!  JUNGER  MENSCH: 
Sterben,  und  keine  Freundschaft;  ohne  Freund- 
schaft sterben  müssen !  EINE  FRAU  AUS  DER 
MENGE:  Ach,  ich  mag  nicht  mehr.  Lasst  mich. 
Genug.  Ich  will  sterben.  JUNGER  MENSCH 
(auf  dem  Boden,  schwach):  Ich  kann  nicht  mehr. 
GREIS:  Ich  friere  so.  Wärme  mich.  VOLK  (wird 
schnell  starr  und  schwach):  Sterben?  GREIS: 
Sterben.  Alles  ist  hell  und  kalt  wie  Kristall! 
DER  MANN  (zum  Volk):  Brüder!  Haltet  aus.  Ver- 
zweifelt nicht!  STIMME  AUS  DEM  VOLK:  Was 
willst  du?  DER  MANN:  Eure  Rettung!  DER 
RUCKLIGE:  Wer  spricht  zu  uns  von  Rettung? 
DER  MANN:    Die  Brüder!       DAS  VOLK    (springt 

112 


auf) :  Rettung !  Brot !  Waffen !  Sieg !  D  E  R  G  O  U  - 
VERNEUR:  Ja,  Sieg!  Aber  Sieg  ohne  Waffen! 
DER  BUCKLIGE:  Ohne  Waffen?  DERGOÜVER- 
NEÜR:  Wir  haben  keine  Waffen.  DER  KRÜP- 
PEL. Ihr  bringt  uns  Brot?  KLOTZ:  Wir  haben 
kein  Brot!  DER  MANN:  Wir  bringen  euch  die 
Kraft! 

ACHTE^SZENE 

Vorige  /  Nauke 

NAUKE  (stürzt  auf):  Betrug!  Da  sind  sie!  Greift 
sie!  Nieder  mit  den  Schwindlern.  Schlagt  sie 
nieder,  die  Schufte,  sie  bringen  euch  Unglück,  sie 
bringen  jedem  Menschen  Unglück!  Schlagt  sie 
tot!  Sie  lügen  euch  an.  Sie  sind  schuld,  dass  ihr 
vor  Hunger  zu  Grunde  geht.  Sie  sind  schuld,  dass 
ihr  mit  den  Bürgern  im  Kampf  seid.  Ohne  sie 
hättet  ihr  Essen  und  ruhiges  Leben!  Die  Bürger 
sind  über  euch,  ihr  seid  besiegt!  Erschlagt  die 
falschen  Brüder,  das  ist  eure  einzige  Rettung  vor 
den  Bürgern,  sonst  werdet  ihr  selbst  niedergemacht. 
DER  MANN:  Volk,  hör  mich!  Die  Bürger  sind  be- 
siegt! NAUKE:  Lüge,  sie  sind  auf  dem  Marsch 
gegen  euch.  DER  MANN:  Wir  alle,  ihr  und  wir, 
sind  stärker  als  alle  Bürger  der  Welt !  D  E  R  K  R  Ü  P- 
PEL:  Wem  kann  man  glauben  ?  DER  BUCKLIGE: 
„Wir"?  Wer  ist  das  —  „wir"?  KLOTZ:  „Wir", 
das  sind  wir  alle  hier,  alle  Völker  der  Erde,  alle, 
die  arbeiten,  denken,  leben  wollen! 
NAUKE:  Spion!  Agent!  STIMMEN  AUS  DEM 
VOLK:    Zurücknehmen!  Nimm  das  zurück!  Be- 

8    Rubiner,  Die  Gewaltlosen  1 1 3 


weis!  NAUKE  (holt  zum  Reden  aus):  Volk!  Hel- 
den! .  ,  .  STIMMEN  AUS  DEM  VOLK:  Es  gibt 
keine  Helden!  Nieder  mit  dem  Kerl!  Nimm  das 
Wort  zurück!  ANDERESTIMMEN:  Nieder  mit 
dem  Kerl!  Seine  Worte  lügen  uns  an!  DIE  FRAU: 
Er  ist  euer  Verräter!  ANNA:  Er  hat  die  Bürger 
in  die  Stadt  geführt!  NAUKE:  Sie  brachten  euch 
Essen!  VOLK:  Essen!  KLOTZ:  Lüge!  Lüge!  Sie 
brachten  euch  nichts,  ihr  habt  es  erfahren  — 
nichts!  Ihr  hungert,  weil  sie  es  wollten!  NAUKE: 
Volk,  Sieger  ...  VOLK:  Wir  sind  nicht  Sieger. 
Er  lügt.  Nieder! 

DER  GOUVERNEUR:  Lasst  ihn!  Er  ist  nur 
schwach  und  zweifelnd!  Wir  sind  die  Schuldigen, 
wir  die  Söhne  der  Erde,  wir  die  Sternbrüder,  wir 
die  Erweckten.  OpdFert  uns  —  so  werdet  ihr  den 
Sieg  haben!  JUNGER  MENSCH:  Seid  ihr  die 
Retter?  DER  GOUVERNEUR:  Wir  haben  keine 
Waffen.  Wir  haben  kein  Brot!  JUNGER  MENSCH: 
Wie  retten  wir  uns?  DER  GOUVERNEUR:  Noch 
schweben  wir  zu  fern  von  euch.  Nehmt  uns:  er- 
schlagt uns,  wenn  ihr  wollt.  Tötet  uns,  wenn  ihr 
sehen  müsst,  wie  unsere  Seele  in  euch  lebt:  Die 
Menschheit!  Schluckt  uns  auf.  Lasst  uns  ver- 
schwinden unter  euren  Füssen  und  Fäusten  — 
und  ihr  habt  unsere  Waffen.  JUNGER  MENSCH: 
Eure  Waffen?  KLOTZ:  Unsern  Willen.  DER 
MANN:  Unser  Denken,  unsre  Arbeit:  Euer  Brot! 
DIE  FRAU  (stürzt  dazwischen,  zu  den  Brüdern): 
Nein!  Nein!  Zu  viel!  Haltet  zurück.  Nicht  das 
Opfer!  Noch  lebt  ihr,  Freunde.  Wir  sind  gemein- 
sam durch  die  Schrecken  der  Welt  gegangen,  und 

ii4- 


nun  sollt  ihr  sterben!  Dies  eine  Mal  lasst  euer 
Denken  nicht  den  Schritt  zur  Wirklichkeit  machen. 
Bleibt!  Es  ist  zu  grauenhaft  auf  dieser  letzten 
Schwelle!  DER  MANN:  Nein,  Frau,  wir  bleiben 
nicht  zurück.  Unser  Weg  kostet  unser  Leben. 
DIE  FRAU:  Und  deine  Schöpfung?  Ist  sie,  wenn 
du  stirbst?  DER  MANN:  Sie  wird  erst,  wenn  ich 
nichts  mehr  vor  ihr  bin!  DIE  FRAU:  Sterben  — 
Opfer?  Wenn  nichts  anderes  herrscht,  dann  ist 
die  Erde  eine  Wüste!  DER  MANN:  Nein,  das  neue 
Morgenreich!  Nur  zu  wollen  brauchen  wir  und 
zu  tun !  DERCOUVERNEUR:Ich  hab  das  Wort 
gesprochen :  Opferung.  Ich  sprach  das  Gesetz  aus. 
Nun  war  ich  wieder  ein  Tier,  wie  ehemals.  Gab 
Gesetze.  Ungeläutert  immernoch.  Das  war  Sünde, 
wenn  auch  zur  Rettung.  Das  letzte  Mal,  es  bleibt 
nichts  anderes.  Wir  müssen  hinab. 
NAüKE  fzum  Volk):  Seht  ihr,  wie  sie  beraten? 
Seht  da  den  Feind  —  fort  müssen  sie!  Hört  auf 
mich!  Sie  helfen  euch  nicht,  wenn  sie  leben.  Es 
sind  Fremde!  Sie  sprechen  eine  andere  Sprache 
als  ihr.  Ihr  seht  die  Feinde  nicht?  Hört  ihre 
Sprache,  seht  ihre  Gestalt!  DAS  VOLK :  Sie  spre- 
chen eine  andere  Sprache.  Sie  sind  Fremde. 
KLOTZ:  Volk,  du  zögerst.  Glaube  uns  dies  letzte 
Wort,  dass  wir  nicht  Schonung  brauchen  .  STIM- 
MEN AUS  DEM  VOLK:  Geht!  Verlasst  die  Stadt! 
DER  MANN:  Und  euer  Kampf?  Ihr  wollt  unter- 
liegen? Die  Bürger  fallen  über  euch  her  und  schla- 
gen euch  zu  wehrlosen  Sklaven!  DAS  VOLK:  Die 
Bürger  ? ! 
DER  GOUVERNEUR.  Wer  seid  ihr?  Denkt,  wer 

8*  Ii5 


ihr  wart  vor  eurer  Geburt!  Taucht  hinab  in  euch 
—  kommt  über  uns,  weil  wir  euch  fremd  sind, 
und  blickt  in  euch  selbst:  Da  —  einmal  wusstet 
ihr,  dass  die  Erde  euch  gehört,  das  Feld,  die  Fa- 
brik euch,  wie  euer  eigener  Arm!  Vergessen  habt 
ihr.  Habt  euch  heut  hinübergehungert  über  den 
letzten  Verfall.  Seid  im  Greisenalter.  Hinein  müsst 
ihr  in  neue  Jugend,  hören  wieder  die  Schilfgräser 
summen  an  eurem  Fluss.  Hinab  tauchen  müsst 
ihr  in  euch.  Hinaus  springen  über  uns,  ohne  Die- 
nerscheu; nie  sonst  werdet  ihr  befreit  von  eurer 
schielenden  Zweideutigkeit.  Volk,  deine  Gewiss- 
heit und  deine  Kraft  geht  über  uns!  Dann  habt 
ihr  Kraft  über  die  Bürger.  VOLK  (in  grosser 
Angst):  Die  Bürger !  N  A U  K E :  Was  habt  ihr  Angst 
vor  den  Bürgern,  die  ihr  nicht  seht?  Die  hier  sind 
gegen  euch!  Ihr  flieht  vor  den  Bürgern?  Das  da 
sind  eure  Bürger!  KLOTZ:  Volk,  wir  sind  es, 
wir.  Ihr  wartet  auf  die  Gewalt?  Übt  sie  an  uns! 
Ihr  hungert?  Fort  mit  unseren  Mäulern!  Ihr  meint 
noch,  wir  seien  euch  Führer?  Wollt  ihr  wissen, 
wer  wir  sind?  Ich  sag  euch  alles,  das  Verruchteste! 
Heut  Nacht  hat  ich  einen  Traum  —  ich  bin  nur 
einer  von  uns  —  und  ich  träumte  unsere  Wahr- 
heit, denn  der  Traum  schob  die  Riegel  fort  von 
meiner  Verstellung.  Da  war  in  einem  Saal  mit 
glattem,  weitem  Boden  ein  Befehlsmensch,  ein  Blut- 
herrscher. Ichstand  gekrümmt  vorihm.  Was  ich  da- 
bei dachte?  Ich  dachte  an  das  Ehrenregiment,  das 
mir  verliehen  wurde.  „Hol  mir  ein  Auto  !"  rief  der 
Herrscher.  Ich  fand  mich  sehr  geehrt  und  lief  unter- 
würfig hinaus  wie  ein  Diener.  Ich  hätt  es  geholt, 

il6 


da  erwachte  ich.  Das  bin  ich,  das  sind  wir.  Hab 
ich  nach  diesem  Traum  noch  das  Recht  für  die 
Menschen  zu  arbeiten?  STIMMEN  AUS  DEM 
VOLK:  Verräterei!  Sie  verkaufen  uns  an  die  Herr- 
scher! Nein,  tut  ihnen  nichts,  es  ist  nur  ein  Traum ! 
KLOTZ:  Nur  ein  Traum?  Aber  das  Schhmmste 
wisst  ihr  noch  nicht.  Jetzt  zeig  ich  es  euch.  fEr 
ballt  die  Hände  hohl  übereinander  und  streckt  sie 
vor,  als  enthielten  sie  etwas.)  Wisst  ihr,  was  ich  in 
meinen  Händen  bewahre?  Hier?  Orden,  Auszeich- 
nungen, Dokumente,  Freundschaftsbriefe  und  Pläne 
feindhcher  Herrscher!  (Das  Volk  in  tvütender  Un- 
ruhe.) DER  MANN  f leise  zu  KlotzJ:  Was  hast  du 
in  den  Händen?  KLOTZ  (leise  zum  Mann):  Du 
weisst  es  —  nichts!  (Laut  zum.  Volk:)  Volk,  so 
werf  ich  diese  Schätze  von  Ehre  und  Reichtum 
unter  dich!  Verachte  sie,  sie  sind  deine  grösste 
Gefahr!  (Er  macht  init  beiden  Händen  eine  xveite 
Wurfbeivegung  über  die  Köpje  des  Volkes  hin.  Das 
Volk  blickt  in  die  Höhe  und  streckt  alle  Hände  J ang- 
bereit hoch.)  DIE  EINE  GRUPPE  DES  VOLKES: 
Gefahr,  er  verkauft  uns!  Niedertracht!  DIE  AN- 
DERE GRUPPE  DES  VOLKES:  Wo  ist  es?  Wer 
hat  etwas  bekommen?  Hast  du's  gefangen?  DAS 
GANZE  VOLK.  Es  ist  nichts  da!  (Wutgebrüll:) 
Lüge! 

N  AUKE  (Schill):  Sie  haben  gemacht,  dass  ihr  hun- 
gert! STIMMEN  AUS  DEM  V  OLK:  Wer  sindsie? 
Fremde.  Lügner.  Verräter.  Sie  wissen  nichts  von 
vins.  Sie  mässten  sich  an  uns.  DER  RUCKLIGE: 
Seht  ihre  Sitten !  DERKRÜPPEL:  Seht  ihre  un- 
verschämte Leichtigkeit.    N  A  U  K  E :  Volk,  sie  haben 

117 


verhindert,  dass  ihr  Essen  findet!  Sie  sind  am 
Fortzug  unserer  Retter  schuld.  Sie  haben  die  Bür- 
ger besiegt.  {Im  Volk  anschwellendei^  Lärm.)  DER 
GOUVERNEUR  (über  dem  Lärm):  Nicht  besiegt. 
Wir  siegen  nicht.  Es  gibt  keinen  Sieg!  Hinaus  mit 
dem  Sieg  aus  der  Welt!  Wir  sind  nicht  Soldaten, 
wir  sind  Menschen!  Nicht  Sieg  befreit  euch  —  nur 
eure  Erkenntnis!     VOLK  (anschwellend):  Tod! 

NEUNTE  SZENE 

Die  Volksmenge  stürzt  sich  auf  den    Mann, 

Klotz,   den  Gouverneur  imd  zerrt  sie  in   ihre 

Mitte 

ANNA  (hervorbi-echend):  Wie  sie  geschlachtet  wer- 
den! Ich  ertrag  es  nicht  länger,  dieses  Opfern!  Ich 
bin  bei  euch.  Ich  will  mit  euch  sterben!  DIE 
FRAU:  Befreiung!  Warum  bleiben  wir  so  still? 
Wir  befreien  sie!  ERSTER  GEFANGENER:  Wir 
sind  zu  wenige!  DIE  FRAU:  Dann  sterben  wir 
mit  ihnen.  ANNA,  DIE  FRAU,  DIE  REIDEN 
GEFANGENEN,  DER  OFFIZIER:  Brüder,  wir 
sterben  mit  euch!  (Wollen  zu  den  Gefangenen.) 
KLOTZ  (aus  dem  Haufen):  Nein,  bleibt!  Ihr  müsst 
leben!  Dazu  ist  unser  Opfer,  dass  ihr  unter  alles 
Volk  der  Erde  geht  und  die  Hingabe  lehrt  für 
die  Menschheit!  JUNGERMENSCH:  O,  Strom 
in  mir!  Wussten  wir  das  je?  Durch  uns  rinnt 
Willen!  DER  MANN  (zum  Volk):  Noch  einen 
letzten  Schritt,  dann  bin  ich  geworden  wie  ihr. 
Nun  werdet  ihr  wie  ich !  VOLK:  Hohn !  Er  höhnt 
uns!    (Dem  Mann  werden  die  Hände  gebunden.) 

Ii8 


DER  GOUVERNEUR  (zum  Mann):  Das  ist  deine 
Sünde,  auch  wenn  du  recht  hast.  Dein  letzter 
Hochmut !  DER  MANN  (mit  gebundenen  Händen) : 
Ich  habe  Todesangst.  Aber  ich  sterbe  für  euch. 
Aus  Jahrtausenden  fiel  ein  Funke  in  mich,  ich 
warf  ihn  weiter  —  lasst  ihn  brennen  in  euch! 
DAS  VOLK  (plötzliche  Angst):  Kein  Blut  mehr, 
Brüder!  (Zu  den  Brüdern:)  Ein  Wunder,  tut  doch 
ein  Wunder  mit  eurem  Willen!  DER  GOUVER- 
NEUR: Es  muss  sein.  Das  Wunder,  Volk,  und 
der  Wille  sind  nicht  mehr  bei  uns,  jetzt  sind  sie 
bei  euch.  GREIS:  Bei  uns  ist  das  Wunder?  Dann 
müssen  wir  nicht  sterben,  dann  können  wir  leben? 
DER  MANN:  Volk,  du  hast  uns  bezwungen,  nun 
feire  dein  Fest.  KLOTZ:  Weltfeiertag!  Volk,  du 
bist  frei.  In  allen  Ländern  ruht  die  Arbeit.  Nun 
atme  neue  Kraft  für  morgen!  DER  GOUVER- 
NEUR: Weltfeiertag!  Weltfreudentag!  Unser 
Opfer  —  dein  Spiel  zum  Fest!  Jetzt  spring  und 
tanze!  (Über  die  Menge  hin:)  Unser  Opfer  —  dar- 
nach wachst  du  auf  zur  reinen  Morgenkraft ! 
JUNGER  MENSCH:  Weltfeiertag!  VOLK  (in 
Bewegung):  Weltruhetag!  (Fo7i  hier  an  im  Volk 
a nsch  we llende  Ra  usch- Beweg u ng .) 
JUNGER  M  E  N  S  C  H  (^m  halbliegender  Stellung  auf 
dem  jßo(/e«yi:  Weltfeiertag!  Ich  feire!  Weltruhetag! 
Meine  Hände  spielen.  O  wie  lang  war  das  nicht. 
Endlich  seh  ich  wieder  um  mich  die  Halme  wach- 
sen; hoch  über  den  weissen  Wolken  schwebt  blauer 
Luftglanz!  Weltfeiertag!  O  Freundschaft,  Freund- 
schaft zu  allen  Menschen!  VOLK:  Weltfeiertag! 
(Es  erhebt  sich  ein  orgiastischer  Taumel.  Sie  dringen 

119 


immer  ivilder  aufeinander  ein,  hedrohen  sich,  um- 
halsen sich,  stossen,  schieben  sich,  fallen  durchein- 
ander.) N  A  ü  K  E  (mitten  anfeuernd  zwischen  dem 
imtner  toller  heivegten  Volk):  Zu  trinken!  GREIS: 
Es  gibt  nichts  zu  trinken!  NAÜKE:  Dann  unser 
Vergnügen,  dann  unser  Spiel!  Die  Opferung  — 
ihr  vergesst!  Die  Opferung,  sie  haben  es  selbst  ge- 
wollt! Die  Opferung,  es  ist  versprochen!  DER 
BUCKLIGE:  Die  Hinrichtung!  Haben  wir  nichts 
zu  essen  —  so  wollen  wir  was  zu  schauen  haben ! 
DAS  VOLK  (die  Orgie  schwillt  immer  mehr  an) : 
Ja,  ja!  Die  Hinrichtung!  KLOTZ:  Volk,  du  er- 
kennst deine  Kraft!  DER  MANN:  Volk,  dein  neues 
Leben  beginnt !  Die  letzte  Gewalt  gegen  uns !  DER 
GOUVERNEUR:  Volk,  nun  brauchst  du  nicht 
Führer  mehr.  Wir  treten  ab.  Zum  letzten  Mal 
von  mir  dieses  Wort  des  Befehls:  Zerstör  und 
schaffe!  VOLK:  Nieder  mit  den  Führern!  Wir 
haben  selbst  die  Kraft !  (Das  ganze  Volk  stürzt  sich 
auf  die  Drei.) 

ZEHNTE  SZENE 
Trommelwirbel.    Das  Volk  umgibt   den   Mann, 
Klotz,   den   Gouverneur   und  schlägt  auf  sie. 

VOLK:  Sie  fallen.  —  Sie  sind  tot.  JUNGER 
MENSCH:  Tot!  —  Meine  Brüder!  —  tot!  DER 
BUCKLIGE;  Wo  sind  sie ?  Ich  seh  sie  nicht  mehr ! 
Die  Drei  (der  Mann,  Klotz,  der  Gouverneur) 
sind  unter  den  Fäusten  der  Menge  verschivunden. 
Das  Volk  reisst  ihnen  die  Kleider  vom  Leihe,  schlägt 
auj  die   leeren  Kleider  iveiter  los  iind  drängt  die 

120 


Drei  zur  Bühne  hinaus.  DER  KRÜPPEL:  Sie 
sind  verschwunden!  GREIS:  Was  macht  ihr? 
Schaut  doch!  Halt!  Ihr  Verhiendeten !  Ihr  schlagt 
los  auf  leere  Kleider  und  Fetzen !  (Die  Orgie  des 
Volkes  nimmt  schnell  ab.)  JUNGER  MENSCH:  Wo 
sind  sie?  tot?  Ich  sehe  nichts!  DAS  VOLK  (hält 
voll  Grauen  die  leeren  Röcke,  auf  die  es  einge- 
schlagen hat.  Mächtiger  Aufschrei  des  Entsetzens): 
Ah!  Gewalt!  —  NAUKE.  Schnell  die  Taschen 
durchsuchen,  ob  Geld  drin  ist!  (Er  greift  in  die 
Taschen  der  leeren  Röcke,  holt  mit  beiden  Händen 
Geld  hej-axis.)  Aha;  endlich  —  meine  Zukunft  ist 
gesichert!  (Läuft  ab. J  ERSTER  ALTER  GEFAN- 
GENER (hinter  ihm):  Du  Lump,  was  tust  du?  Du 
Dieb !  O  du  Dummkopf  —  es  gibt  ja  morgen  gar 
kein  Geld  mehr!  VOLK:  Gewalt!  —  Wir  sind 
verloren!  Das  Ende! 

ELFTE  SZENE 
Vorige  ohne  den   Mann,  Klotz,  den  Gou- 
verneur, Nauke 

DER  JUNGE  MENSCH:  Mord!  Mord!  Ihr  habt 
sie  erschlagen.  Ein  Weltgemetzel  ist  geschehen. 
Eache!  Rache  für  die  Führer.  Rache  für  den  Mord! 
STIMMEN  AUS  DER  MENGE:  Mord!  —  Rache 
für  den  Mord!  DER  KRÜPPEL:  Wir  sind  un- 
schuldig, sie  haben  es  selbst  gewollt !  D  E  R  R  U  C  K  - 
L I G  E :  Aufruhr !  Hilfe,  schlagt  sie  nieder.  Nieder 
mit  den  Aufrührern!  ZWEITER  GEFANGENER: 
Kinder  und  Weiber  erschlagt  ihr.  Mörder  ihr,  aber 
ihr  könnt  den  Menschen  nicht  töten !  DER  JUNGE 

121 


MENSCH:  Rache!  Nieder  mit  den  Mördern!  Tot 
sind  sie,  tot  die  Führer!  ZWEITER  GEFANGE- 
NER: Mehr  als  Rache!  Sie  liessen  uns  Höheres: 
Aus  ihren  zerfetzten  Hüllen  erhebt  sich  die  Mensch- 
heit !  ERSTER  WÄCHTER:  Die  Führer  sind  tot. 
Aber  spür  in  deiner  Hingabe  ihren  Geist:  ewig 
lebend  unter  uns  handelt  ihr  unsterblicher  Wille! 
DERJüNGEiMENSCH:  Tot,  tot  die  Grossen! 
ERSTER  GEFANGENER:  Sie  Starben  für  uns. 
Wir  Kleinen  leben.  In  uns  Kleinen  leben  sie  weiter! 
Die  Zeit  der  Kleinen  ist  gekommen.  ERSTER 
WÄCHTER:  Millionen  Leben  beginnen.  Das  Volk 
—  zum  erstenmal  das  Volk!  Das  Wunder  kam 
über  die  Welt!  ZWEITERGEFANGENER: 
Nicht  das  Wunder  —  die  Tat!  Wir  sind  nicht 
mehr  die  Kleinen.  Wir  sind  aus  dem  Dunkel  ans 
Licht  gestiegen  —  die  Kameraden  unter  allen 
Völkern  der  Erde.  —  Nun  rücken  die  Mächtigen 
der  Welt  zum  Kampf  gegen  uns,  wie  gegen  den 
furchtbarsten  Feind!  DER  JUNGE  MENSCH: 
Mit  euch!  Meine  Arbeit  beginnt! 

ZWÖLFTE  SZENE 
Vorige  /  Die  drei  Revolution  ärinnen 

eilen  auf 

ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Ein  Wunder  ist 
geschehen !  Z WEITEREVOLUTIONÄRIN:  Das 
Glück  ist  da!  DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Die 
Freiheit  kommt !  JUNGER  MENSCH:  Wisst  ihr 
nicht,  dass  hier  Mord  wütet?  —  Glück?  was  ist 
das?  Wir  kennen  nur  noch  die  Zukunft  und  un- 

I  22 


seren  Willen!  ERSTE  REVOLUTIONÄRIN: 
Siereissen  die  Wälle  um  die  Stadt  nieder!  ZWEITE 
REVOLUTIONÄRIN:  Sie  schütten  dieGräbenzu! 
DRITTE  REVOLUTIONÄRIN:  Die  Menschen 
stürzen  aus  der  Stadt  durch  die  Felder  und  rufen 
allem  Volk  „Freiheit"  und  „Brüderschaft"  zu! 
ZWEITE  REVOLUTIONÄRIN:  Funkenblitze 
sind  hinübergesandt  zu  uns,  und  Boten  kommen: 
in  allen  Ländern  der  Erde  grüsst  sich  das  Volk! 
ERSTE  REVOLUTIONÄRIN:  Rauch  steigt 
wieder  aus  den  Häusern.  DRITTE  REVOLU- 
TIONÄRIN: Aus  den  Wäldern  kommen  unend- 
liche Scharen  von  Fremden,  dicht  wie  Laub.  Sie 
schwenken  unsere  Fahnen,  und  wo  die  Unsrigen 
ihnen  begegnen,  umarmen  sie  einander!  ERSTE 
REVOLUTIONÄRIN:  Hört  ihr?  Hört  ihr  über 
uns,  um  uns,  hoch  das  Summen?  Die  Telegraphen 
strömen  unsere  Botschaft  zu  allen  Freunden  um 
die  Erde!  OFFIZIER:  Wir  sind  von  euch.  Ihr 
seid  wir.  Wir  sind  Volk,  Alle  kräftigen  Arme  her : 
Wir  wollen  arbeiten  !  Als  freie  Menschen  arbeiten ! 
ERSTER  GEFANGENER:  Alle  kräftigen  Arme  her: 
Wir  backen  Brot!  DAS  VOLK:  Wir!  Kameraden! 
Freiheit!  Leben!  (Der  zweite  Gefangene,  die 
drei    Revolutionärinnen  und  das  Volk  at.) 

DREIZEHNTE  SZENE 

Vorige    ohne    den    zweiten    Gefangenen, 
die  drei  Revolutionärinnen  und  das  Volk 

DER  JUNGE  MENSCH:   Ihr  backt  Brot?   Werdet 
glücklich?  Zeugt  Kinder,  habt  Familien?  Dafür 

123 


starben  die  Brüder?  —  Ihr  wollt  die  Erde  um- 
wuchern mit  eurem  Arbeitssamen,  —  Ich  muss 
euch  stören!  Heraus  aus  der  Ruhe  eures  Lebens» 
noch  eh  sie  beginnt !  Nieder  mit  eurem  dicken 
Glück!  —  Zur  Freiheit,  zur  Ewigkeit!  OFFIZIER: 
Wohin  in  die  Ewigkeit?  JUNGER  MENSCH: 
Zur  neuen  Schöpfung!  DAS  VOLK  funsichtbar, 
RuJeJ:  Brot!  Brot!  ERSTER  GEFANGENER: 
Einen  einzigen  Laib  Brot  backen  mit  Freude  — 
darin  strömt  für  uns  Menschen  alle  Schöpfung  zu- 
sammen! DER  JUNGE  MENSCH:  O  Bruder,  in 
jedem  Stück  Eisen,  das  ihr  aus  der  Erde  holt,  in 
jedem  Fetzen  Leder,  das  Kameraden  wissend  da- 
mit schneiden,  holt  ihr  ein  Stück  von  eurem 
Morgenreich  zu  euch.  Aber  immer  muss  neue 
Bitternis  sein.  Immer  müssen  Menschen  jagen  über 
die  ganze  Welt,  die  euch  treiben,  dass  ihr  nicht 
vergesst  ewig  aufs  neue  den  Sprung  zum  Morgen- 
reich zu  \va  gen  I  OFFIZIER:  Wiedergeburt  des 
Menschen!  DER  JUNGE  MENSCH:  Mehr!  Alles. 
Das  Höchste!  Neugeburt!  Neugeburt  der  Erde! 
Neugeburt  der  ganzen  Welt!  DERERSTEGE- 
F  AN  GENE:  Wir  Arbeiter  der  Welt  —  die  Arbeit 
beginnt!  (Ab.) 

VIERZEHNTE  SZENE 
Vorige  ohne  den  ersten  Gefangenen 

DIEFRAU:  Zu  Ende  diese  Welt.  Ermordet  mein 
Blut.  Tot  mein  Weg!  —  Und  ich  half  nicht.  Ich 
stand  dabei!  —  Ich  lebe  noch!  —  Die  Glieder 

124 


dorren  schlaff  an  meinem  Leib.  —  Versunken  sind 
die  Häuser.  Hier  ist  Wald;  dunkler  Wald  rings. 
Meine  Haare  wehen  um  die  Stämme,  dass  ich 
weiss:  hier  endet  mein  Leben.  —  Ich  gehe  von 
euch.  DER  OFFIZIER.  Ich  bin  mit  dir.  DIE 
FRAU:  O  täusche  dich  nicht.  Was  du  an  mir  sahst, 
ist  zu  Ende.  Ich  bin  über  alle  Stufen  des  dunkel- 
sten Lebens  geschritten,  nun  werde  ich  vergessen, 
was  ich  wusste,  und  in  das  zweite  Leben  sinken. 
Ihr  seid  höher  als  ich.  Vergesst  mich.  Ich  bin 
euch  verschwunden.  DER  OFFIZIER:  Ich  bin 
nicht  höher.  Ich  warf  meine  Gewalt  hin.  Ich  bin 
nur  ein  einfacher  Mensch  noch.  Ich  lebe  mit  dir. 
DIE  FRAU:  Wölfin  bin  ich  geworden.  Lasst  mich 
allein.  Die  Wölfin  beisst.  DER  OFFIZIER:  Mit 
dir  bleibe  ich  allein.  Mit  dir  grabe  ich  die  Erde. 
Mit  dir  in  der  Arbeit  der  Hände  weiss  ich  nichts 
mehr  von  den  Strömen  der  Vergangenheit.  Auf 
der  harten  Erde  schaffen  wir  von  Jahreszeit  zu 
Jahreszeit.  Auf  engem  Raum,  fern  von  grossen 
Stunden.  Klein  und  unscheinbar  sind  wir  gewor- 
den. Vergessen  vom  Morgenreich,  an  dem  wir 
schufen.  DIE  FRAU:  Ein  einfacher  Mensch.  Die 
grosse  Hölle  ist  vorüber.  Alle  Menschen  sehen  den 
Stern.  Komm  zu  mir,  du  Vergessen  sein !  DER 
JUNGE  MENSCH  (zum  Offizier):  Bauer  wirst  du 
sein.  Still  sitzen.  Vergangenheit  brüten;  die  Welt 
zurückhalten!  Hindern!  —  Und  also  —  sind  wir 
Gegner?  DER  OFFIZIER:  Nicht  Gegner!  —  Mor- 
gen leben  andere  an  meiner  Statt.  Ich  bin  nur  ein 
Geringer.  Ich  will  vergessen  sein  in  meiner  Arbeit 
für  euch.  (Die  Frau  und  der  Offizier  ah.) 

125 


FÜNFZEHNTE  SZENE 
Der  junge  Mensch  und  Anna 

ANNA:  Ah —  niemals  vergessen!  Nie  vergessen 
Trümmerwut  und  Mord !  —  Neue  Menschheit,  du 
hebst  dein  Morgengesicht  aus  dem  Dunkel.  Wissend 
seid  ihr:  Verbrannt  und  neu  gezeugt  im  Blut.  — 
Eure  Kraft  treibt  mich  weiter.  Ich  gehe.  DER 
JUNGE  MENSCH:  Mit  uns!  ANNA:  Ein  Zeitalter 
ist  zu  Ende.  DER  JUNGE  MENSCH:  Ich  bin 
am  Anfang.  In  dieser  Stunde  bin  ich  geboren. 
ANNA:  Du  hast  die  Welt  um  dich.  Aber  wo 
bleibt  mein  Leben?  DER  JUNGE  MENSCH: 
Komm,  dein  Leben  beginnt  heute  neu.  Wir  sind 
Kameraden.  Und  spür  ich  auch  nie  mehr  deinen 
Arm  um  meinen  Hals,  wir  müssen  weiter!  Unser 
Weg  geht  noch  durch  viele  Länder. 

Ende 


Von  Ludwig    R  U  b  i  n  e  r  erschien  : 

Das  Himmlische    Licht 

Verlag  Kurt  Wolff,  Leipzig   191 6 


Der  Mensch  in  der  Mitte 

Verlag   „Die  Aktion",  Berlin    191 7 


Tolstois    Tagebuch 

Herausgegeben  nach  dem  geistigen  Zusammenhang. 
Europäische  Bücher,  Verlag  Rascher,  Zürich  1918 


Voltaire:   Die  Romane  und 
Erzählungen 

In     deutscher    Sprache     herausgegeben.     Verlag 
Gustav  Kiepenheuer,  Potsdam  1919 


Kameraden  der  Menschheit 

Ein  Sammelbuch    von    Dichtungen    zur  Weltre- 
volution.VerlagGustav Kiepenheuer,  Potsdam  1 9 1 9 


Druck  von  Mänicke  und  Jahn  in  Rudolstadt 


ix. 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


PT  Rubiner.    Ludwig 

26'^5  Die  Gewaltlosen 


U13&4